Wenn man diese Sätze liest, fragt man sich unwillkürlich: Woher nimmt ein gerade 23-Jähriger solche Einsichten, solche Fragen. Im Wesentlichen aus dem, was er liest, aber auch erlebt und erleidet? Es sind zwei Schicksalsschläge: Leo Popper, der nächste Freund jener Zeit, an den er den einleitenden Brief richtet, stirbt vor Drucklegung des Buchs an Tuberkulose, Irma Seidler, mit der Lukács eine leidenschaftliche Liebe verband, wohl die erste, die scheiterte, stürzte sich in die Donau. Ihrem Andenken hat Georg sein erstes Buch gewidmet.
Es zeichnet ein Epochenbild der Jahrhundertwende und bezieht dabei den Autor als Betrachtenden mit ein. Darin liegt die große Souveränität seines Buches. Den Zusammenhang von Einsamkeit, betont kultivierter Einsamkeit und Kälte in Georges Gedichten hat der junge Kritiker als Erster herausgestellt, bevor er in Berührung mit dem Dichter und seinem Kreis in Heidelberg kam. Es gelingt Lukács, »aus wenigen, zumeist bloß intuitiv erfassten Zügen einer Richtung, einer Periode etc. synthetisch allgemeine Begriffe zu bilden, um dann deduktiv zu den Einzelerscheinungen herabzusteigen und so eine großzügige Zusammenfassung zu erreichen«, wie er selber sein Verfahren beschreibt, ein Verfahren der großzügigen Zusammenfassung. In seinem Essay über Novalis gibt Lukács ein Bild der Frühromantik:
»Jena am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Episode im Leben weniger Menschen, welche für die große Welt nur von episodischer Bedeutung waren. Überall dröhnt die Erde von Schlachten, vom Zusammenbruch ganzer Welten, aber in einer kleinen deutschen Stadt kommen ein paar junge Menschen zusammen, zu dem Zwecke, aus diesem Chaos eine neue, harmonische, alles umfassende Kultur zu schaffen. Sie stürmen darauf los mit jener unbegreiflichen, tollkühnen Naivität, die nur krankhaft bewußten Menschen gegeben ist und diesen auch nur in einer Sache ihres Lebens und auch hier wieder nur für wenige Augenblicke. Es war ein Tanz auf glühendem Vulkan, es war ein strahlend unwahrscheinlicher Traum; nach vielen Jahren mußte die Erinnerung daran in der Seele eines Zuschauers als etwas verwirrend Paradoxes leben. Denn bei allem Reichtum des von ihnen Erträumten und Ausgestreuten ›lag dennoch etwas Ruchloses im Ganzen‹. Ein geistiger Babelturm sollte errichtet werden, Luft wäre sein ganzer Unterbau gewesen; er mußte einstürzen, aber in seinen Erbauern brach auch alles mit seinem Sturze zusammen.«
Im Bild von der Zusammenkunft einiger junger Menschen in Jena, vom geistigen Babelturm, von der Hybris erkannte sich der junge Autor selbst und antizipierte den Zusammenbruch.
Lukács schreibt über die romantischen Traumwelten, die in den Salons zur Sprache kamen, wenn sie auch nie wirkliche Gestalt annahmen, nicht annehmen konnten. Er hatte selber in Budapest einen Salon nach deutschem Muster mit errichtet und angeführt. Alle Zeitgenossen berichten, wie sehr Lukács die bestimmende Gestalt dieses Kreises war, bestimmend zwar, aber auch offen, neugierig, vielseitig, überredend charmant. Der Jenaer wie der Berliner Salon des frühen 19. Jahrhunderts nahm in Budapest neue, andere, zeitgemäße Gestalt an. Ab Herbst 1915, als Georg Lukács zum Militärdienst nach Budapest zurückberufen wurde – ohne in den Krieg ziehen zu müssen –, kamen junge Gelehrte sonntags um 17 Uhr zusammen, um über Fragen der Zeit zu diskutieren. Der Dichter Béla Balázs und Lukács versammelten diesen Sonntagskreis um sich, der unter diesem Namen in die Geschichte einging. Der Heidelberger Professor Eberhard Gothein besuchte im Frühjahr 1918 »die jungungarische Akademie«, eine ganz eigenartige, geistreiche, bezaubernde Zusammenkunft mit einem Zusatz Bohème: »Sonntag abends finden sie sich in einem Privathause des Dichters, Balázs, zusammen. Um 8 Uhr bricht alles auf, um in einem benachbarten Gasthaus Abendessen einzunehmen, um dann wieder alle an den gleichen Platz zurückzukehren.« »Diskutieren sei ein Lebenselement der jungen ungarischen Welt«, weiß Gothein seiner Frau nach Heidelberg zu berichten, »es sind Idealisten, als solche vielleicht etwas zu bewusst […] Lukács weiß seine Absichten ebenso liebenswürdig wie dialektisch und mit ständiger Berufung auf seine Autorität durchzuführen.« Und der Gast aus Deutschland fügt hinzu: »Der Ton ist ebenso lebhaft wie gehalten, auch die Frauen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen durchaus ohne Affektation und ohne starre weibliche Dogmatik, die Unterhaltung bald gemeinsam, bald in Gruppen, so wie man es sich wünscht.«
Béla Balázs und Georg Lukács, 1910er Jahre.
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