THOMAS SPARR
Das deutsch-jüdische
Jerusalem
1 Rechov Melech George / King George Street 2 Derech Aza 3 Rechov Keren Kajemet le-Israel
4 Rechov Alcharisi 5 Rechov Don Yizchak Abarbanel 6 Rechov Ramban
7 Rechov Schlomo ben Gabirol 8 Sderot Yehuda ha-Levi 9 Rechov Menachem Ussischkin
10 Rechov Avraham ibn Esra 11 Rechov Aharon 12 Rechov Ibn Schaprut 13 Rechov Sa’adya Gaon
14 Sderot Ben Maimon 15 Rechov Raschba 16 Rechov Alfasi 17 Rechov Radak
18 Rechov Binjamin Metudela 19 Rechov Chaim Arlosoroff
a Hebräisches Gymnasium b Gebäude des KKL und anderer jüd. Institutionen c Tennisplatz d / e Wohnungen für Arbeiter und Angestellte
Stadtplan im Adressbuch von Rechavia, 1936
Vorwort
Abend in Jerusalem
Rechavia als geistige Lebensform
Ankunft der Architekten
Käsebier erobert die Jaffa Road
Von Liebe und Finsternis
Anfänge
Das Hebräische Gymnasium
Besucher
Ein zionistischer Beamter
Gingeria
»Rechavia bleibt deutsch!«
Synagogen in Rechavia
Der Geschmack von Rechavia
Lebensläufe durch einen Stadtteil
Kabbalist. Gershom Scholem
Muttersohn. Betty und Gershom Scholem
Gastaraber. Brit Schalom
Das utopische Rechavia. Walter Benjamin
Tempelhure. Ein Klub in Jerusalem
Der Zauberlehrling. George Lichtheim
Professor Weltfremd. Escha und Gershom Scholem
Wiederfinden. Werner Kraft
Im Land Israel. Ludwig Strauß
Von Merchavia nach Rechavia. Tuvia Rübner
Das himmlische Rechavia. Else Lasker-Schüler
1948. Das belagerte Rechavia
Geburtstag in Jerusalem. Martin Buber und Baruch Kurzweil
Geografie der Seele. Lea Goldberg
Eichmann in Rechavia. Hannah Arendt
»Heimat – du wievielte?« Mascha Kaléko in Jerusalem
Der Kanzler kommt. Konrad Adenauer
Das sechste Leben. Anna Maria Jokl
Self Displaced Person. Peter Szondi
»Sag, dass Jerusalem ist«. Ilana Shmueli und Paul Celan
Rechavia revisited
Dank
Zur Schreibweise
Literatur
Bildnachweis
Als ich im Herbst 1986 nach Jerusalem kam, um dort zu leben und zu arbeiten, traf ich auf eine neue, mir bis dahin ganz unbekannte Welt, die mir zugleich seltsam vertraut erschien und in die ich sogleich eintauchte. Wie mit einer Zeitmaschine zurückversetzt, erkannte ich in der Lebenswelt der Jeckes, der Krawatte und Anzug tragenden Juden aus Deutschland, den Damen in ihren Kostümen und Kleidern, das Weimar, Frankfurt, Berlin, München oder Königsberg der 1920er, 30er Jahre, die räumlich versetzte Gegenwart einer Vergangenheit, die ich selber vom Hörensagen kannte, aus Büchern, von Begegnungen.
Vor dreißig Jahren lag diese Vergangenheit schon lange zurück; nun ist sie noch ferner gerückt. Kaum einer der Jeckes, die aus der Weimarer Republik oder dem nationalsozialistischen Deutschland ins Land Israel gekommen sind, lebt noch. Aber diese Ferne erlaubt auf paradoxe Weise die Beschreibung, als ließe sich das Verschwundene besser fassen und begreifen als das Verschwindende.
Die Welt, die ich mit diesem Buch beschreiben möchte, versammelt sich in einem Jerusalemer Stadtteil: in Rechavia, der Weite Gottes. Auf vergleichsweise schmalem Raum staut sich eine lange Zeit, die von den anderthalb Jahrzehnten der Weimarer Republik und der Zeit von 1933 bis 1945 bis weit in die Nachkriegszeit reicht. Der Raum dieser Geschichte erstreckt sich auf eine Handvoll Straßen, Plätze, einige Läden und Cafés, auf sparsam möblierte Wohnungen mit Flügeln, Notenständern, mit einigen Bildern und vor allem lauter Bücherwänden. Jahrzehnte später wurden diese dann abgetragen, am Straßenrand lagen zerfleddert alte Einbände der Klassiker, von Goethe und Schiller, Kleist, Conrad Ferdinand Meyer, von Gottfried Keller, daneben Zuckmayers »Des Teufels General«, einzelne Hefte der »Neuen Rundschau«, eine Erstausgabe von Thomas Manns »Tonio Kröger«, Werke von Martin Buber oder Heinrich Bölls »Billard um halb zehn«, Günter Grass’ »Katz und Maus«. Zerzauste Bestände lang gesammelter, erlesener Bibliotheken landeten auf dem Sperrmüll. Die Namen und Titel der Bücher sagten den israelischen Enkeln, Nichten und Neffen – die zweite Generation verstand zumindest noch etwas Deutsch – in den allermeisten Fällen so wenig wie das alte Mobiliar, die schweren Truhen, Tische und Stühle. Das ein oder andere Exemplar der achtlos am Rande liegenden Bücher nahm ich damals mit.
Rechavia war das »deutsche«, das deutsch-jüdische Jerusalem, Hauptstadt der Jeckes, die auf ganz unterschiedlichen Wegen ins Land gekommen waren, geflohen, übersiedelt, besuchsweise, zeitweise von der britischen Mandatsmacht interniert, aus zionistischer Selbstbehauptung oder dem Antisemitismus, der nationalsozialistischen Verfolgung entronnen, sie traumatisiert hinter sich lassend, was so viel heißt: sie mit sich zu tragen. Auch das zeigen die nachfolgenden Zeugnisse.
Viele der eingewanderten Jeckes stammten aus Berlin oder hatten doch eine wesentliche Zeit ihres Lebens dort verbracht. Rechavia nahm in seine »Weite Gottes« etwas vom inneren Grundriss der großen Stadt auf. »Grunewald im Orient« nannten Bewohner wie Besucher Rechavia, nach dem vornehmen bürgerlichen Berliner Westen, der im Westen Jerusalems auf eigene Weise auflebte.
Die innere Geografie dieser wenigen Quadratkilometer ist in Büchern, Briefen, Bildern, Fotografien überliefert, in Else Lasker-Schülers »Hebräerland«, Gershom Scholems Autobiografie »Von Berlin nach Jerusalem«, in Gedichten von Mascha Kaléko, in den vielen Briefen, die sie von Jerusalem aus schickte, in den Schriften von Werner Kraft und anderen.
Am Anfang steht die eher zufällige Begegnung der Protagonisten dieses Buches in einem Café in unserem Viertel. Sechs Personen suchen und finden sich an einem Abend in Jerusalem Anfang der 1960er Jahre. Dass sie einander begegnet wären, ist ein bloßer Wunsch – doch zugleich mehr. Denn ihre Wege in Rechavia haben sich, tatsächlich oder unausgesprochen, gekreuzt. In den anschließenden Kapiteln werden diese Wege und Scheidewege, die Orte, der jeweilige Aufbruch in Berlin – die Stadt bleibt der magnetische Pol –, vor allem die Kreuzungspunkte von Else Lasker-Schüler, Gershom Scholem, Werner Kraft, Mascha Kaléko und Anna Maria Jokl und von anderen gezeigt, die jeder für sich einen Aspekt des Stadtteils zeigen.
Rechavia wurde seit den 1920er Jahren zu einer geistigen Lebensform. Manches davon, Wahlverwandtes fand man auch in Tel Aviv, auf dem Carmel in Haifa oder anderswo im Land Israel, nur eben nicht in dieser besonderen Dichte und der Ausprägung eines einzelnen Viertels.
Zu Rechavia gehörte die Hebräische Universität auf dem etwas entfernten Mount Scopus, später im benachbarten Givat Ram; viele Studenten hatten hier ein Zimmer zur Untermiete. Zu diesem berlinisch geprägten Viertel Jerusalems gehörte ebenso ein kleiner Einzelhandel, der Eisenwarenhandel, ein Hutgeschäft, Meislers Elektroladen, Modegeschäfte, Zeitungskioske, Buchläden, ein Kino, das Café »Atara« oder das Caféhaus »Sichel« oder »Rechavia«, die Pension von Käthe Dan sowie die tägliche Lektüre von »Blumenthals Neueste Nachrichten«, aus denen später die »Jedioth Chadaschoth« wurden (der Name in lateinischen Buchstaben auf der ersten Seite gedruckt), dann die »Israel-Nachrichten«, »Chadaschoth Jisrael« (nun auch auf Hebräisch) und dem »MB«, dem späteren, ebenfalls deutschsprachigen Mitteilungsblatt der Einwanderer aus Deutschland, das in Tel Aviv erschien.
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