Im Café Atara sitzt an diesem Abend neben Martin Buber Anna Maria Jokl, aus Berlin zu Besuch in Jerusalem. Sie trägt sich mit dem Gedanken, ganz nach Israel überzusiedeln, mit über fünfzig noch einmal den Lebenswechsel zu wagen, den Wechsel der Wohnung, im Beruf, sie will eine neue Sprache erlernen, sich an eine neue Umgebung gewöhnen, die ihr gleich bei ihrer ersten Reise nach Israel 1957 zusagte und doch eine tiefgreifende Veränderung in allem bedeutet, das Wagnis des sechsten Lebens, nach dem Geburtsort Wien, der Heimatstadt Berlin, der Wanderstadt Prag, nach London, wohin sie 1939 vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit dem Schiff von Danzig aus gelangte, nach Ostberlin und Westberlin, wo sie zu dieser Zeit noch in der Sächsischen Straße lebt. Sie hatte Martin Buber bei ihrer ersten Reise in Jerusalem besucht und steht seitdem mit ihm in Verbindung. Er hat ihr, wie so vielen, die Welt des Chassidismus nahegebracht, mit seinen Erzählungen und Geschichten des Ostjudentums der österreichisch-ungarischen Kronländer, dem Anna Maria Jokl entstammte. Martin Buber war der Ziehvater ihres Wechsels von Berlin nach Jerusalem.
Das Café Atara, 1938 von der Familie Grinspan in der Ben-Jehuda-Straße als »Esslokal« eröffnet, wurde rasch zu einem Treffpunkt der Jeckes, in dem neben der englischsprachigen »Jerusalem Post« und den »Jedioth Chadaschoth«, das »MB«, das »Pariser Tageblatt« oder die »Jüdische Rundschau« aus Berlin, die »Weltwoche« aus Zürich auslagen, die immer bedrückendere Nachrichten aus dem Heimatland ihrer Leser brachten. Äußerlich sieht das Atara, zu Deutsch: die Krone, 1961 noch so ähnlich aus wie bei seiner Gründung über zwei Jahrzehnte zuvor: die grüne Markise, die braune Kaffeebohne als Logo, die einfachen Tische und Stühle, der »Kaffee hafuch«, »Kaffee verkehrt«, wenig Kaffee in viel Milch, wahrscheinlich eine Wiener Erfindung aus jener Zeit, als die Türken nach der Belagerung der Stadt einige Säcke mit Kaffebohnen zurückgelassen hatten. Oder den »Jeruschalmi«, bei dem man einfach Kaffeepulver in die Kanne schüttet und heißes Wasser darübergießt.
»Für die Jeckes war das Atara ein Stück Heimat«, berichtet Gad Granach: »Man ging ins Café, um zu sehen und gesehen zu werden. Jeder kannte jeden. Oben, im ersten Stock des alten Atara, saßen die Jüngeren. Die Älteren, die die Treppen nicht mehr schafften, saßen unten. Und jeder hatte ›seine‹ Kellnerin. Das waren keine kleinen Aushilfsmädchen, sondern gestandene Frauen, die oft jahrelang dort gearbeitet haben. Ich erinnere mich an Stella und Zima, die wussten nicht nur genau, was ihre Stammkunden immer bestellten, die waren auch Beichtmütter. Mit denen haben manche Gäste wahrscheinlich mehr geredet als mit den eigenen Ehefrauen.«
Gershom Scholem ist im Café Atara angelangt, öffnet die Glastür, erblickt Buber und die unbekannte Begleiterin. Buber stellt sie ihm vor, Anna Maria Jokl aus Berlin, aufmerksam, freundlich schaut sie den hochgewachsenen Mann an, reicht ihm die Hand: »Schalom«. Scholem setzt sich, bestellt Kaffee und Schokoladenkuchen in dem Café, in dem man ihn nur selten sieht.
»Lassen Sie es mich gleich freiheraus sagen, Herr Scholem, Ihr Wort vom ›Grabmal‹ für meine Bibelübersetzung liegt schwer auf meinem Herzen«, hebt Buber sogleich an. »Ich erahne, was Sie damit ausdrücken wollten an dem Winterabend bei mir zu Hause, aber dies harte, scharfe, steinschwere Wort ist meiner jahrelangen, jahrzehntelangen Arbeit nicht angemessen, es ziemt sich nicht, so darüber zu sprechen.« Er holt Luft, lässt Scholem aber noch nicht zu Wort kommen. »Das Vorhaben, die Bibel aus dem alten Hebräisch ins Deutsche zu übersetzen, reicht Jahrzehnte zurück, als ich in Frankfurt zusammen mit Franz Rosenzweig damit begann. Es war die Geburtsstunde einer lebendigen Arbeit, nicht das Grabmal, als das es Ihnen nun erscheint.«
»Sie tun mir Unrecht, Herr Buber, das Wort vom Grabmal bezieht sich nicht auf Ihre Absicht, die ich hoch achte, genau wie die Rosenzweigs, nicht auf Ihre Arbeit als solche, sondern auf deren Wirkung heute, fünfunddreißig Jahre später«, lenkt Scholem ein und hebt einen Zeigefinger. »Ich war mir der Gefahr, an dem Abend im Februar missverstanden zu werden, bewusst. Ich muss fürchten (oder hoffen?), sagte ich in Ihrem Haus, Ihren Widerspruch herauszufordern, und doch drängt sich meinem Gefühl die Frage auf: Für wen wird diese Übersetzung nun bestimmt sein, in welchem Medium wird sie wirken? Historisch gesehen ist sie nicht mehr ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern – und es fällt mir nicht leicht, das zu sagen – das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung.« Er lässt die Hand mit dem erhobenen Finger sinken. »Die Juden, für die Sie übersetzt haben, gibt es nicht mehr. Die Kinder derer, die diesem Grauen entronnen sind, werden nicht mehr Deutsch lesen. Die deutsche Sprache selber hat sich in dieser Generation tief verwandelt, wie alle wissen, die in den letzten Jahren mit der neuen deutschen Sprache zu tun hatten – und nicht in der Richtung jener Sprachutopie, von der Ihr Unternehmen so eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Der Abstand zwischen der realen Sprache von 1925 und Ihrer Übersetzung ist nun, 35 Jahre später, nicht kleiner, sondern größer geworden.« Tatsächlich hatte Scholem schon in den zwanziger Jahren Bubers Übersetzung heftig kritisiert.
Martin Buber schaut entschuldigend zu seiner Begleiterin hinüber, doch das kann er so nicht stehenlassen. Anna Maria Jokl nickt ihm zu. Sie ist neugierig auf die Erwiderung. Und so sagt Buber: »Aber Sie wissen, Herr Scholem, dass mir der Dialog das eigentliche Anliegen ist, das Gespräch, der Austausch, die Kontroverse, auch über den Abgrund hinweg, zum Gespräch gehört sein Scheitern wie sein Gelingen, zur Begegnung die Vergegnung, der Dialog ist ein treibendes, durchdringendes Prinzip, nicht nur ein punktuelles Ereignis. Darum bin ich schon recht bald nach 1945 wieder nach Deutschland gefahren, gegen manchen heftigen Widerstand, auch den Ihren, habe zu Deutschen gesprochen, mit Politikern wie Theodor Heuss geredet, Auszeichnungen wie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels empfangen. Leben ist Begegnung.«
»Darum, lieber Herr Buber, nannte ich Ihre Übersetzung ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen im Augenblick des Scheidens, vor 1933, ein Gastgeschenk freilich, das die Gastgeber ausgeschlagen haben.«
Beide Herren, der ältere wie der jüngere, sprechen ein Deutsch, der eine Wienerisch, der andere Berlinisch gefärbt, das man heute gar nicht mehr vernimmt und damals in Deutschland selten vernahm, gewählt, gelehrt, erhaben, ernsthaft und ohne Ironie, mit einem Pathos der Distanz, das beide in ihrer Ferne belässt und doch in der Form verbindet.
Der Disput zieht sich noch hin, Anna Maria Jokl folgt ihm, und doch gebietet die Höflichkeit letztendlich, ihm Einhalt zu gebieten. Anna Maria Jokl erzählt nun von ihrem Leben in Berlin, ihrer Arbeit als Psychotherapeutin. Unterdessen hat sich das Café gefüllt. Hannah Arendt hat sich an einen anderen Tisch gesetzt. Sie ist gerade aus New York gekommen, hat Quartier in Rechavia genommen, um über den Prozess gegen Adolf Eichmann zu berichten, der am 11. April 1961 vor dem Bezirksgericht in Jerusalem beginnt, ein Prozess, der die israelische Gesellschaft aufwühlen und lange beschäftigen wird; bis heute dauert diese Beschäftigung an. Adolf Eichmann, einer der Hauptverantwortlichen der Shoah, wurde im Mai 1960 vom Mossad, dem israelischen Geheimdienst, in Argentinien festgesetzt und verhaftet. Der »New Yorker« hat Hannah Arendt nach Israel geschickt, um in fünf Folgen über den Prozess zu berichten. »Eichmann in Jerusalem« heißt ihr Report, den sie 1963 auf Englisch, bald danach auf Deutsch veröffentlichen wird. Dieses Buch wird zu einer erbitterten Kontroverse zwischen der Autorin und ihren israelischen, auch amerikanischen Kollegen führen, erst recht zwischen Gershom Scholem und Hannah Arendt, deren Verbindung im Schweigen enden wird, einem beredten Schweigen mit einem Schlusspunkt deutlicher Briefe von beiden. Aber das ist an diesem Schabbatabend für beide Zukunft, für uns Vergangenheit.
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