»Wofür soll das gut sein?«, fragte Rob, als Mark eine kurze Pause einlegte.
»Kann ich noch nicht sagen. Ich werde es spätestens dann merken, wenn das Ding anfängt, im Rechner was kaputt zu machen.«
»Willst du das Programm nicht entfernen?«
Mark zündete sich eine neue blauberingte Zigarette an, blies eine süßliche Qualmwolke in die Luft und lächelte. »Das sind genau solche Herausforderungen, an denen ich nicht vorbeikomme. Aber vielleicht entpuppt sich dieser Virus als eine harmlose Sache.«
»Dafür scheint das Ding zu intelligent gebaut. Meinst du nicht?«, erwiderte Rob.
Rob gruppierte sämtliche Objekte, gab den Polygonbegrenzungen eine einheitliche Linienstärke und speicherte ab. Er hatte leichte Kopfschmerzen von der ständigen Arbeit am Bildschirm. Zwar hätte er auch mit den Virtual Glasses arbeiten können, doch die damit verbundenen Steuerungsvorgänge behagten ihm nicht. Ein Blick auf die Uhr – schon wieder weit nach achtzehn Uhr. Eigentlich ging seine Arbeitszeit bis sechzehn Uhr. Dennoch kam er selten früher hier weg. Dabei durfte er sich als einer der wenigen fest angestellten Grafiker in der Agentur noch glücklich schätzen. Die meisten mussten sich als sogenannte Freie auf dem immer dünner werdenden Arbeitsmarkt durchschlagen.
Rob wollte seinen Rechner gerade in den Stand-By-Modus schalten, als ein Anruf einging. Marks stoppelbärtiges Gesicht erschien auf der Bildplatte. Seine Augen blickten verstört.
»Hallo, Rob«, sagte er. »Ich muss mit dir reden. Kommst du zu mir?«
»Ich habe eigentlich schon etwas vor.« Rob lehnte sich leicht zurück. »Es müsste schon etwas sehr Wichtiges sein …«
»Es ist verdammt wichtig«, erwiderte Mark schnell, und sagte dann beinahe flehend: »Bitte!«
»Okay, ich kann aber nicht lange bleiben. Auf diese Verabredung habe ich lange hingearbeitet.«
»Ich warte auf dich.« Mark lächelte gequält. »Danke!«
Mark wohnte in einem der Altbauviertel. Es stank nach Hundekot, an den Straßenrändern lagen Müllsäcke. Die Stadtreinigung hatte sich hier schon seit Monaten nicht mehr sehen lassen. Drei etwa zehnjährige Kinder standen am Ende der Straße und hielten einen großen Hund an der Leine. Der Köter kläffte ihn an. Die Kinder lachten und riefen Schimpfwörter. Rob ignorierte sie.
Mark hatte seine Wohnung im dritten Geschoss eines noch halbwegs intakt aussehenden Gebäudes. Die massive Wohnungstür war mit hellgrüner, schon abblätternder Farbe gestrichen. Dort, wo der Klingelknopf sein sollte, ragten zwei kurze Kabelenden aus der Wand. Mark hatte sich nie Mühe gegeben, aus dieser Wohngegend herauszukommen. Rob hätte es hier nicht ausgehalten. Er klopfte.
Mark öffnete die Tür und ließ ihn ein. Obwohl Rob das letzte Mal vor rund zwei Jahren hier gewesen war, hatte sich an der Einrichtung nicht viel geändert. Zentrum der Wohnung war das Wohnzimmer, in dem mehrere Rechner mit offenem Gehäuse ihren Platz hatten. Ein Tisch, drei alte Stühle und zwei Schränke waren lieblos im Zimmer aufgestellt.
Mark verschwand in der Küche und kam mit zwei riesigen Tassen Kaffee zurück. Seine Hände zitterten.
»Ich bin heute gekündigt worden«, sagte er plötzlich. »Fristlos! Laut Personalsoftware gelte ich als Risikofaktor für die Betriebssicherheit. Keine Ahnung, wieso. Entscheidungen der Personalsoftware stellt man nicht infrage. Das Mistprogramm wurde angeschafft, um die Korruption beim Personalmanagement einzuschränken. Jede größere Firma lasst ihre Personalentscheidungen über diese Software laufen. Sie berücksichtigt psychologische und physiologische Gutachten und das aktuelle Verhaltensmuster der betreffenden Person.«
»Du hast vier Jahre in dem Scheißladen gearbeitet!«, rief Rob. »Hast du keine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten?«
»Ich könnte einen Widerspruchsantrag einreichen. Doch bei solch einer Anschuldigung … Ich sehe kaum Chancen.«
»Warum? Man kann doch nicht einfach etwas behaupten, ohne dir eine Möglichkeit zur Richtigstellung zu geben.«
»Das Programm sorgt für ein Höchstmaß an Sicherheit. Ein Verdacht reicht aus, um deinen Job zu gefährden. Industriespionage zählt zu den häufigsten wirtschaftlichen Vergehen mit verheerenden Auswirkungen. Darauf reagiert eine Firma besonders empfindlich.
Ich habe zumindest einen Verdacht: Die Software wurde manipuliert! Ich habe dir doch von diesem merkwürdigen Virus erzählt. Hinter dem Ding steckt mehr, als ich dachte.«
Mark nahm einen Schluck Kaffee.
»Seitdem in Onlinesystemen dank der Einbindung von Werbeträgern keine Gebühren mehr anfallen, stehen die meisten Rechner in einem ständigen Kontakt mit dem Weltnetz. Der Virus nutzt diesen Zustand und kommuniziert über diese Verbindungen mit anderen befallenen Systemen. Das eigentliche Programm hinter dem Virus ist also viel größer, als ich dachte. Es ist vielleicht so gewaltig, dass es Intelligenz besitzen könnte!«
Rob starrte Mark fassungslos an. »Du spinnst!«
Mark schüttelte den Kopf. »Ich habe solche Programmstrukturen noch nie gesehen. Selbstregenerierend und in ein höheres System eingebettet. Einfach genial …«
»Aber welchen Zweck soll die Sache haben? Ein Spaß durchgeknallter Informatikstudenten?«
Mark schüttelte langsam den Kopf. »Es könnte vieles sein. Ein direkter Eingriff in unsere Privatsphäre, ein aus den Bahnen geratenes wissenschaftliches Experiment oder ein Megavirus mit eigener Intelligenz.« Mark lächelte traurig. »Such selbst heraus, was am wahrscheinlichsten ist.
Vielleicht ist einigen Leuten unangenehm, dass ich auf ihre Schliche gekommen bin. Das würde zumindest einiges erklären …«
Rob befand sich in einem völlig abgedunkelten Raum. Langsam streckte er seine Hände aus, in der Hoffnung, irgendwann auf ein Hindernis zu stoßen, um sich zu orientieren. Doch da war nur Leere. Vorsichtig begann er, Schritt um Schritt nach vorn zu gehen. Die Hände nach vorn haltend spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Eine merkwürdige Stille, die wie Samt in seinen Ohren lag, verstärkte sein Gefühl der Unsicherheit.
Plötzlich hatte er den Eindruck, durch feine Spinnennetze zu gehen. Ein unkontrollierbares Schütteln zuckte durch seinen Körper, und er wischte sich hektisch über sein Gesicht, um die klebrigen Fäden abzustreifen. Das Gefühl erinnerte ihn an seine Kindheit, als er mit den Eltern jeden Herbst Pilze suchen war. Die Spinnweben zwischen den Bäumen hatten ihm den Spaß verdorben, sodass er später nur noch widerwillig mitkam.
Ein seltsamer, aber vertrauter Geruch geriet ihm in die Nase. Er machte noch einige Schritte nach vorn und spürte einen leichten Luftstrom auf seinem Gesicht. Jetzt konnte er auch den Geruch bestimmen. Es war der intensive Gestank nach frischem Blut. Sein Herz begann zu rasen.
Plötzlich brach den Boden unter seinen Füßen weg. Kopfüber, mit den Händen ins Nichts greifend, fiel er in die Dunkelheit.
Rob spürte einen schmerzhaften Aufschlag und erwachte neben seinem Bett. Ein lautes Summen zeigte einen dringenden Anruf an, der in der Warteschleife lag. Er stand auf, rieb sich die schmerzende Schulter und bestätigte den Anruf. Das Gesicht einer hageren, etwa vierzigjährigen Frau mit halblangen, schwarzen Haaren und einem dünnlippigen Mund erschien auf dem Schirm. Er schaute auf den Link der Statuszeile. Polizeidistrikt 8 war dort zu lesen. Da Rob von seiner Seite den Bildkanal deaktiviert hatte, streckte er ihr die Zunge heraus.
»Was gibt’s?«, fragte er.
»Sind Sie Rob Halberg, derzeit bei ComSatz beschäftigt?«
»Worum geht es?«
»Kennen Sie Mark Kalik?« Ihr Gesicht zeigte keine Regung.
»Wir sind befreundet. Ist was passiert?«
»Mark Kalik wurde heute Morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ein Nachbar hörte laute Schreie und informierte die Polizei.« Sie schaute plötzlich in die Kamera, als würde sie ihn tatsächlich sehen. »Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Herrn Kalik?«
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