Der junge Mann nickte knapp. »Immer vor der Arbeit. Außer am Wochenende, da schlafe ich aus.«
»Kann es sein, dass der Tote hier schon gestern im Wasser lag und Sie ihn übersehen haben?«
Holgers Zeuge verzog den Mund zu einem schwachen Grinsen. »Unmöglich. Den kann doch jeder sehen. Und ich bin nicht der Einzige, der hier joggt. Das ist eine beliebte Laufstrecke. Glauben Sie mir, der lag hier gestern noch nicht.«
Wer machte sich die Mühe, sein Mordopfer, das wahrscheinlich schon seit längerer Zeit tot war, hier draußen abzulegen, wo es dann innerhalb von Stunden gefunden wurde?
Lore kam auf den Wagen zu, das blau-weiße Absperrband in der Hand, um es in den Kofferraum zurückzulegen.
Holger stieg wieder aus. »Alles in Ordnung?« Er war sich nicht sicher, ob es ihr gutging.
Sie reagierte auf ihn mit einer Gegenfrage. »Hast du die Jacke erkannt?« Lore schien offenbar etwas bemerkt zu haben, das ihm entgangen war. Erneut betraten sie die Brücke. Sie kniete sich hin und leuchtete mit ihrer Taschenlampe zwei Meter nach unten. Das stärker werdende Tageslicht half ebenfalls. Holger konnte alle Einzelheiten gut erkennen. Eine schwarze hüftlange Jacke aus Baumwollstoff oder grobem Leinen, die der Tote offen trug, innen und am Kragen mit Pelzimitat gefüttert, Knöpfe aus Metall, wie man sie an Jeanshosen findet. Am Ärmel eine silberne Plakette aufgenäht.
»Erkennst du sie?«
»Prior«, erwiderte er. Und Lore nickte. Sie hatten die Leiche eines ehemaligen Kollegen gefunden.
Kapitel 4
10.21 Uhr. Niemand der Passanten, die sich in der Nähe der Westerntorkreuzung aufhielten, bemerkte, dass an diesem nasskalten Dienstagmorgen ein gekaperter Zug ohne einen Mann auf dem Führerstand durch die Innenstadt von Wernigerode fuhr. Alles schien wie immer, sah man vielleicht von der Tatsache ab, dass es keine Dampflokomotive war, die diesen Zug schleppte. –
Conrad Fichte wusste es natürlich, denn er war an diesem Tag der diensthabende Fahrdienstleiter und somit zuständig für die sichere und reibungslose Fahrt von 8925. Er wusste aber auch, dass er eigentlich in ein Bett gehörte. Warum war er heute Morgen nur nicht zu Hause geblieben? Jetzt bereute er sein Pflichtbewusstsein zutiefst. Er hatte auf einen ruhigen Dienst spekuliert. Daraus wurde nun definitiv nichts mehr. Das, was da in seinem Körper rumorte, fühlte sich an wie eine ausgewachsene Grippe. Er schwitzte sichtlich. Nicht nur unter den Armen und an den Handflächen. Auch an seinem Rücken klebte das Hemd bereits, obwohl es hier oben auf dem Stellwerk nur mäßig warm war. Auf seinem Schreibtisch vor den drei Monitoren, die alle Zugbewegungen von hier bis zum Bahnhof Eisfelder Talmühle abbildeten, lagen, frisch von der Apotheke besorgt, Nasenspray und Aspirin bereit. Und eine Packung Taschentücher. Doch das alles war jetzt nicht wichtig.
Er musste es irgendwie schaffen, 8925 zu stoppen, den zwei oder mehr bewaffnete Irre anscheinend in ihre Gewalt gebracht hatten. Der Grund dafür blieb vorerst im Dunkeln. Vielleicht hatten sie es mit einem terroristischen Anschlag zu tun. In Zeiten wie diesen war alles möglich. Einen Augenblick hatte Conrad vermutet, dass es sich nur um einen dummen Scherz zweier Saufbrüder handeln könnte, die in ihrem Rausch auf diese Idee gekommen waren und nun dem Urbanek, ihrem Rangierer, einen gehörigen Schrecken einjagten, um sich nachher auf die Schenkel zu klopfen. Wer kaperte schon einen Zug, und das nicht irgendwo in einem abgelegenen Wüstenstaat, sondern mitten in Deutschland? Das kurze Gespräch über Funk mit einem der Gangster, als der Zug losfuhr, hatte ihn eines Besseren belehrt.
Für solch einen Fall gab es keinen Havarieplan. Für solch einen Fall gab es überhaupt nichts. Da hieß es zunächst einmal: Ruhe bewahren.
Seine erste Maßnahme war ein Anruf bei seinem Chef gewesen, der sich zu diesem Zeitpunkt unten in der Werkstatt aufgehalten hatte. Conrad ging gern auf Nummer sicher. Damit war er die Verantwortung für die ganz großen Entscheidungen schon einmal los. Sofort danach das Telefonat mit der Polizei. Conrad hatte tatsächlich drei Mal erklären müssen, was passiert war. Der Mann schien ihm einfach nicht glauben zu wollen.
Nun war das Spezialeinsatzkommando auf dem Weg, doch es rückte aus Magdeburg an. Das konnte dauern. Wenigstens kam der diensthabende Kripobeamte vom Nicolaiplatz herüber. Dreihundert Meter Luftlinie. Er musste jeden Augenblick hier eintreffen. Der hatte bestimmt die bessere Ausbildung, wie man mit solch durchgeknallten Typen in einer Ausnahmesituation wie dieser sprechen musste. Wenn das überhaupt möglich war. Vorerst jedenfalls war jeder Kontakt zu den Gangstern abgebrochen. Sie reagierten nicht auf seine Anrufe. Doch sein Monitor verriet ihm: Der Zug fuhr noch. Und zwar mit Höchstgeschwindigkeit. Inzwischen hatte er den Haltepunkt in der Kirchstraße passiert und bewegte sich in Richtung des Stadtteils Hasserode. Eine gefährliche Ecke, wenn das Triebfahrzeug unbesetzt war und der Urbanek praktisch ohne Sicht fuhr, vom Ende des Zuges aus. Die Gleise verliefen in diesem Streckenabschnitt teilweise direkt auf der engen Straße. Hatte dort irgendein Anwohner oder Tourist sein Auto gedankenlos zu nah am Gleis geparkt, gab es einen Crash in der ungebremsten Version.
Schlimmer noch war aber ein anderes Problem. 8925 entgegen kam 89601 aus Nordhausen. Ein Sonderzug, gechartert von niederländischen Eisenbahnliebhabern, die auf einer Rundreise durch Deutschland waren. Von Wernigerode aus sollte es weiter nach Goslar gehen. Die Zugbegleiterin hatte ihm schon Meldung gemacht. Etwa hundertfünfzig Fahrgäste, alle bei bester Stimmung. Kreuzen sollten sich die Züge planmäßig im Bahnhof Hasserode. Doch 8925 war zu früh losgefahren und würde dort vermutlich nicht warten. Die Anweisung des Kidnappers war eindeutig gewesen. Jetzt konnten sie es nur noch im Bahnhof Steinerne Renne. Und das auch nur theoretisch. Denn 89601 war von der Station im Augenblick noch ungefähr vier Kilometer entfernt. Zu weit, um bei Normalgeschwindigkeit rechtzeitig da zu sein. Der gekaperte Zug würde Steinerne Renne früher erreichen. Was passierte, wenn die Kidnapper ihre Ankündigung wahrmachten und den Bahnhof ohne Halt durchfuhren?
Um die Katastrophe zu vermeiden, müsste 8925 die Geschwindigkeit deutlich drosseln. Die Möglichkeit, dass 89601 nach Drängetal zurücksetzte, schloss er aus. Bei einem Triebwagen wäre dies vielleicht eine Option gewesen, aber nicht mit einer Dampflok an der Spitze. Der Stopp auf abschüssiger Strecke, die steile Bergfahrt, rückwärts, das Umlegen der Einfahrweiche von Hand … Es wäre risikovoll und die Zeit würde nicht reichen.
Ohne weiteres Zögern griff Conrad zum Funkgerät und nahm Kontakt mit dem Lokführer des Sonderzuges auf. Talfahrt mit Höchstgeschwindigkeit. Ebenfalls ein riskantes Unterfangen bei nur wenig Aussicht auf Erfolg. Conrad wusste es. Ein Strohhalm, nichts weiter. Doch er sah keine andere Möglichkeit. Mehr als eine Minute konnte der Zug nicht bis Steinerne Renne herausholen. Das reichte nie und nimmer.
Die Tür ging auf. Sein Chef kam herein. Hinter ihm ein Mann, den Conrad nicht kannte.
»Wie ist die Lage?«
Conrad schnäuzte sich und beschrieb sie in knappen Worten. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde es in ein paar Minuten zum Frontalzusammenstoß zweier Züge irgendwo hinter Steinerne Renne kommen. Und Conrad sah zurzeit keine Möglichkeit, dem gekaperten Zug mitzuteilen, dass er langsamer fahren musste.
Sein Chef hieß Bärbaum und so ungefähr konnte man sich ihn auch vorstellen. Er wog gute hundertzwanzig Kilo und war mindestens eins neunzig groß. »Was ist das für eine verdammte Scheiße«, knurrte er. »Übrigens: Das ist Kriminaloberkommissar Mölter vom LKA in Magdeburg. Er wohnt zufällig im Harz und hat deshalb den Auftrag bekommen, den Einsatz zu leiten. Er wird mit uns zusammen versuchen, unser Problem zu lösen. Dies hier ist damit ab jetzt sozusagen die provisorische Einsatzzentrale der Polizei. Habe ich das richtig verstanden?«
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