Lore selbst erzählte von ihren Männerbekanntschaften. Holger fragte nicht danach. Sie tat es von allein. Er hätte gern auf ihre Geschichten verzichtet, wollte sie jedoch nicht vor den Kopf stoßen. Besser so, als wenn sie sich stundenlang anschwiegen. Gelegentlich gabelte sie jemanden auf, der dann für eine Nacht blieb, niemals länger. Sie sprach erst nach ein paar Tagen darüber, vielleicht auch erst nach Wochen. Mit genügend Abstand wusste sie, dass es wieder nicht der Richtige gewesen war. Meist redete sie dann verächtlich von ihm. Dass er dabei grunzte, störte sie, oder sein langes, dichtes Nasenhaar. Wie sie die Kerle kennenlernte, wusste Holger nicht. Er vermutete, dass sie auf irgendeinem Dating-Portal unterwegs war. Wenn das stimmte, hätte er gerne gewusst, wie sie sich dort beschrieb.
Er hatte sich auch schon vorgestellt, wie es wäre, wenn er mit ihr schliefe. Dabei mochte er weder Locken noch stand er auf ältere Frauen. Einmal hatte er von ihr geträumt. Sie hatte es ihm angeboten. »Wilden, animalischen Sex. Hier direkt auf dem Schreibtisch. Die Akten schieben wir beiseite. Aber das geht nicht. Ich bin dir zu alt.«
Er wollte verneinen, gleichzeitig bekunden, dass er kein Interesse hatte, nicht auf sie bezogen, sondern an dieser Idee im Allgemeinen, verhaspelte sich, stotterte sich in einen roten Kopf. Sie lachte, dass ihr die Tränen kamen, und ging zum Schredder, um alle seine Akten zu schnitzeln.
Nach dem Aufwachen hatte er wie vor den Kopf geschlagen im Bett gesessen und sich gefragt, was das wohl über ihn verriete, wenn er so etwas träumte. Aber das war schon ein paar Jahre her und nie wieder vorgekommen. Heute konnte er nur noch verwundert darüber grinsen.
Gleich ihr erster Einsatz hatte sie gestern Abend an den Stadtrand zu einer Gruppe kiffender Jugendlicher geführt, die sich mit ihren Mopeds oder Fahrrädern immer an einem Rastplatz für Wanderer trafen. Unter einer Straßenlaterne stand dort ein hölzernes Wetterdach mit ein paar Sitzbänken. Lore, die am Steuer saß, fuhr im Schritttempo heran und hielt in einem Abstand von etwa fünfzehn Metern an. Sie stiegen aus, und obwohl alle Jugendlichen ein Kapuzenshirt trugen, erkannte Holger sofort, dass sein Sohn unter ihnen war. Er hatte schon vorher gewusst, dass Daniel heimlich kiffte. Es ihm auszutreiben, war ihm bisher nicht gelungen. Daniel hatte stets alles abgestritten und wollte nicht mehr über das Thema reden. Irgendwie war ihm der Draht zu seinem Jungen gerissen.
Lore, die sich Ausweise zeigen ließ und Daniel kannte, gab ihm dann die Chance, zusammen mit zwei seiner Kumpane zu fliehen, bevor er an der Reihe war. Holger nahm die Verfolgung auf. Er hatte sie weder darum gebeten noch dergleichen erwartet, und trotzdem war er froh, dass Daniel auf seinem Rad nach ein paar Häuserecken seinen Blicken entschwunden war. Dass die drei anderen, die sie erwischt hatten, die Klappe halten würden, war sozusagen Ehrensache, von ihnen drohte keine Gefahr für Daniel. Holger glaubte auch nicht, dass Daniels Freunde wussten, was sein Vater von Beruf war. Damit prahlte man nicht in seinen Kreisen.
Holger kannte Lore fast ebenso gut wie seine eigene Frau. Sie verstanden sich blind. Dennoch wusste er nicht, wie er mit der Sache umgehen sollte. So ein Fall, der ins Private abdriftete, ging ihm an die Nieren. Damit hatte er keinerlei Erfahrung. Nachher im Wagen verlor er über den Vorfall nicht ein einziges Wort, und auch sie schien zu spüren, dass sich ein Gespräch darüber zu einem Fiasko entwickeln könnte.
Noch auf der Rückfahrt machten sie einen fünfzigjährigen Mann dingfest, der sich – betrunken, wie er war – vorgenommen hatte, in der Innenstadt sämtliche Straßenlaternen zu zertrümmern. Zu diesem Zweck trug er eine Stofftasche mit Schottersteinen bei sich, die, wie er nachher freimütig zugab, aus dem Gleisbett der Schmalspurbahn an der Westerntorkreuzung stammten. Dabei war er allerdings so alkoholisiert, dass es meistens bei einem kläglichen Versuch blieb; nur zweimal waren die Scheiben zu Bruch gegangen. Kaum saß er auf der Rückbank ihres Einsatzwagens, kotzte er Holger ohne jede Vorwarnung in den Nacken, um dann augenblicklich einzuschlafen. Holger kochte vor Wut. Er musste duschen gehen und sich aus seinem Spint ein neues Hemd besorgen, während sich Lore um den Mann kümmerte. Sie konnte zupacken und schaffte es auch allein, ihn auf die Wache zu verbringen. Während sie die Anzeige wegen Sachbeschädigung schrieb, wollte Holger sich noch um einen neuen Einsatzwagen kümmern. Hätte er sich dafür etwas mehr Zeit gelassen, wären sie vielleicht um den letzten Einsatz ihrer Schicht herumgekommen.
Leblose männliche Person im Stadtteil Nöschenrode. Hier, wo sich der Zillierbach von Drei Annen Hohne kommend in das Mühlental schlängelte und sich eine Weile seinen Weg gemeinsam mit der Bundesstraße 244 hinunter in die Stadt suchte, hatte um diese Zeit schon ein Jogger, mit Stirnlicht und Schrittzähler ausgerüstet, seine Trainingseinheit absolviert und dabei den Mann entdeckt. Als sie ankamen und ihren Wagen vorläufig am Straßenrand parkten, war es bereits ein paar Minuten nach sieben Uhr. Ihre Schicht hätte längst zu Ende sein müssen. Der Morgen dämmerte, doch so richtig hell wurde es nicht. Das Wetter hatte sich plötzlich verschlechtert. Es regnete und stürmte.
Der Sportler, der den Toten gefunden hatte, stand auf einer klapprigen, offenbar kaum noch genutzten Brücke über dem Wasser und behalf sich mit einigen gymnastischen Übungen, um die unfreiwillige Pause zu kompensieren und nicht auszukühlen. Ein junger, hoch aufgeschossener Mann in schwarzer Hose und neongelbem Oberteil. Am Oberarm eine durchsichtige Handytasche. Sein Stirnlicht hüpfte hin und her, als wäre es noch stockfinster. Dass er einen kaltblütigen Mord entdeckt hatte, schien ihn nicht weiter zu berühren. »Moin«, begrüßte er die Beamten und wies auf den Bachlauf direkt unter der Brücke.
Dem Toten fehlte das halbe Gesicht. Er lag im Wasser, das jedoch bisher nicht die Kraft aufgebracht hatte, ihn fortzutragen. Vollständig bekleidet, der Kopf in Fließrichtung, Rückenlage, ein Bein leicht angewinkelt. Eine Schussverletzung, wahrscheinlich aus nächster Nähe, befand Lore, die den gespenstischen Anblick, der sich ihnen bot, nicht lange ertragen konnte. Der Mann musste schon eine ganze Weile tot sein, denn es fanden sich keinerlei frische Blutspuren mehr. Die Wunde war vollkommen getrocknet.
Sie taten das, was getan werden musste. Tatort absichern, Personalien aufnehmen, den Kriminaldauerdienst informieren, ebenso die Staatsanwaltschaft. Die Kollegen der Mordkommission mussten aus Magdeburg anrücken, das würde eine ganze Zeit dauern. Einen pünktlichen Dienstschluss konnten sie somit vergessen. Sie verjagten den Jogger von der Brücke und verfrachteten ihn auf den Rücksitz ihres Dienstwagens, wo er warten sollte, bis die Kollegen eingetroffen waren. Die würden sicher noch Fragen an ihn haben. Ob er ihnen bei der Aufklärung des Falls weiterhelfen konnte, bezweifelte Holger.
»Aber nicht jetzt auch noch kotzen«, sagte Holger, unterdrückte ein Gähnen und schlug mit Schwung die Autotür zu. Der Regen kam nun unangenehm von der Seite. Der Jogger verstand nicht und zeigte ihm durch die Scheibe einen Vogel. Er war wohl wütend, dass er jetzt nicht pünktlich nach Hause kommen würde. Dabei hatte er eine Adresse angegeben, die nur ein paar Hundert Meter entfernt von ihrem Standort lag. Vielleicht musste er zum Dienst oder hatte andere Pläne, die sie gerade durchkreuzten. Holger ließ die Beleidigung ungeahndet, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. So konnte er dem hässlichen Wetter wenigstens ein paar Augenblicke entgehen.
»Laufen Sie hier jeden Morgen?«
»Wird das hier jetzt ein Verhör?«
»Wenn, dann wäre es eine Vernehmung. Aber dafür sind meine Kollegen zuständig. Nennen wir es einfach ein Gespräch.«
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