Die Zugbegleiterin, die noch immer kein einziges Wort gesagt hatte, schwebte offenbar in Todesangst, denn mit ungeahnten Kräften stieß sie Rick, der ihr im Weg stand, beiseite, öffnete den Sicherheitsbügel auf der anderen Seite und sprang ab, bevor der Zug zu schnell geworden war. Mit den Armen über dem Kopf blieb sie am Rande des Schotterbetts liegen.
Rick überforderte die Situation nun endgültig. Er schob Ulrich ein wenig beiseite, damit der Rangierer nicht mithören konnte. »Was machst du? Wir können doch nicht so losfahren? Von hier hinten! Auf der Lok ist kein Mensch!«
»Wir können und wir werden. Wir müssen das hier jetzt zu Ende bringen. Denk an Sophie! Oder hast du eine bessere Idee? Außerdem sparen wir so noch ein bisschen Zeit! Wer weiß, wozu das gut ist.«
»Und die Leute im Waggon?«
»Betrachte sie als unsere Lebensversicherung.«
»Aber wenn einer von denen draufgeht?«
»Wenn alles nach Plan läuft, passiert keinem was.«
Rick war noch nicht überzeugt von Ulrichs Worten. »Und was ist, wenn uns wirklich ein Zug entgegenkommt? Hast du daran auch gedacht?«
Ulrich grinste triumphierend. »Lass dich nicht von diesem Rangierer ins Bockshorn jagen, Rick! Ich habe den Fahrplan gelesen. Der erste Zug des Tages startet von Drei Annen Hohne um 11.08 Uhr. Da sind wir längst oben. Und wenn nicht, dann wartet er.«
Langsam bewegte sich die Wagenschlange mit der weinroten Diesellok an der Spitze aus dem Bahnhof heraus. Der blaue Kohlekran wurde passiert und die kräftige Dampflok, die eigentlich diesen Zug zum Brocken schleppen sollte.
»Wir haben soeben ein rotes Signal überfahren …«, setzte der Rangierer vorsichtig an, offensichtlich noch immer in der Hoffnung, die Katastrophe abwenden zu können.
»Geben Sie mir das Funkgerät!«, verlangte Ulrich und riss es dem Mann fast aus der Hand.
Dem Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk war längst aufgefallen, dass sich der Zug ohne Abfahrauftrag in Bewegung gesetzt hatte. Ulrich ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern erteilte mit klaren Worten seine Anweisungen. Der Mann da oben würde sie sehen können, in diesem Moment passierte der letzte Waggon des Zuges die Höhe des Stellwerks. Deutlich sichtbar hielt Ulrich ihrer Geisel die Waffe an den Kopf. »Freie Fahrt in Richtung Drei Annen Hohne, alle Signale auf Grün, keine Störungen, sonst wird es Tote geben!«
Kapitel 2
10.10 Uhr. Nicht nur im Wagen 8 des Zuges 8925 hatte man wahrgenommen, dass soeben ein Schuss gefallen war. Sein Knall rollte durch den ganzen Bahnhof. Menschen drehten sich um, Fenster wurden geöffnet. Und so dauerte es nicht lange, bis auch die große Maschinerie der polizeilichen Gefahrenabwehr begann, die dafür vorgesehenen Routinen abzuspulen. –
Lore Sikora hörte für zwei Sekunden auf zu atmen, als der Schuss fiel. Ihre Hand fuhr, dem Reflex folgend, an die rechte Hüfte, doch sie griff ins Leere. Dafür kullerte die kleine Porzellaneule von ihrem Schoß auf den Boden des Waggons.
Lore hatte gerade versucht, die filigrane Figur mit den großen blauen Glasaugen in einem mit Seidenpapier ausgeschlagenen Schächtelchen unterzubringen, das noch eine rote Schleife bekommen sollte. Es war das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter, die heute siebenundsiebzig Jahre alt wurde. Eulenfiguren waren ihre große Leidenschaft, sie sammelte sie seit Jahren. Manche von ihnen waren richtig wertvoll, man würde dreistellige Summen dafür bekommen. Da war es schwer, noch eine zu finden, die nicht schon in der gläsernen Vitrine mit den Perlmuttgriffen ihren Platz gefunden hatte. Einer von Lores Kollegen aus dem Revier, der kürzlich in Italien im Urlaub gewesen war, hatte ihr eine mitgebracht, die in der Sammlung noch fehlte. Mutter würde sich freuen.
Doch nun hatte Lore keinerlei Gedanken mehr an den Geburtstag. Das Geräusch eines Schusses kannte sie genau. Lore war Polizeibeamtin. Die Stunden auf dem Schießstand zählte sie längst nicht mehr. Das war vor wenigen Sekunden nicht etwa die spektakuläre Fehlzündung eines Pkw oder das Herunterknallen eines stumpfen schweren Gegenstands auf eine Stahlplatte gewesen, wie es bei Eisenbahnen manchmal vorkommen konnte. Hier hatte jemand gerade aus nächster Nähe eine Waffe abgefeuert und deren Kugel hatte irgendwo die Haut dieses Waggons durchschlagen. Jeder hier konnte eben die kurze Resonanz an den Wänden spüren. Das Entsetzen stand den Reisenden ins Gesicht geschrieben.
Seit sie vor vier Jahren, kurz nach ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag, nach Schierke gezogen war, um näher bei ihrer Mutter zu wohnen, nahm sie täglich die Bahn. Und normalerweise fuhr sie in Uniform. Wegen der erhöhten Sicherheit für die Fahrgäste. Eine Vereinbarung mit der Bahngesellschaft. Aber heute würde Lore die Zeit nicht reichen, um vor dem Mittagessen bei ihrer Mutter noch einmal nach Hause zu fahren, um sich umzuziehen, deshalb saß sie ausnahmsweise in Zivil in diesem Zug. Und das verschaffte ihr nun möglicherweise einen kleinen strategischen Vorteil.
Lore blieb ganz ruhig, zitterte nicht. Ihre Finger hätten einen Faden durch ein Nadelöhr bringen können. Die Routine ihrer vielen Dienstjahre ließ sie auch in gefährlichen Situationen besonnen reagieren. Erfahrung lernte man nicht auf der Polizeischule. Lore war heute Morgen nach einem anstrengenden Dienst, der auch noch mit einem Gewaltverbrechen hatte enden müssen, erst mit großer Verspätung aus der Dienststelle herausgekommen und hatte sich ein wenig sputen müssen, den Zug noch zu erreichen. Das Frühstück in der Bäckerei Emmeran ganz in der Nähe ihres Kommissariats, das sie sonst nach einer Nachtschicht gerne nahm, musste ausfallen. Dabei war ihr Kollege Holger am Schluss noch so nett gewesen, ihr den anstehenden Papierkram abzunehmen. Das machte er manchmal. Texte zu verfassen war nicht so ihre Sache, auch wenn das neue Rechtschreibprogramm, mit dem das System jetzt arbeitete, es schaffte, für sie die größten Klippen zu umschiffen. Längst hatte Holger ihr kleines Problem erkannt und einfach den Mund gehalten. Die meisten anderen auf der Wache ahnten davon nicht einmal etwas, obwohl sie nun schon so viele Jahre dabei war. Jeder, dem es ähnlich erging wie ihr, entwickelte seine kleinen Strategien, damit umzugehen. Aber Holger hatte sie durchschaut. Er sah eben Dinge, die nicht jedem auffielen. Lore wäre froh, säße er jetzt ebenfalls in diesem Zug.
Sie orientierte sich kurz. Der Wagen war zum Glück nur mäßig besetzt. Insgesamt befanden sich zehn Personen darin, sie eingeschlossen. Vorne links ein Pärchen, beide so um die sechzig, vielleicht auch ein bisschen älter. Sie trugen trotz des unwirtlichen Wetters Wanderkleidung. Auf der anderen Seite, in die Ecke gefläzt, ein Mädchen, vielleicht gerade so volljährig, tätowiert und mit einer schwarzen Wollmütze auf dem Kopf, unter der lange braune Haare hervorquollen. Sie starrte auf ihr Handy, auch der Schuss hatte sie nicht ablenken können. Eine Reihe davor zwei junge Frauen. Sie waren wahrscheinlich Kellnerinnen in einem Hotel in Schierke, die sonst das Auto nahmen und nur wegen des aufkommenden Sturms heute lieber im Zug saßen. Lore hatte bis eben unfreiwillig ihrem ungenierten Gespräch folgen können. Wieder eine Reihe weiter, mit dem Rücken zum Klo, ein älterer Mann, der ganz so aussah wie ein Feriengast: im staubgrauen Regenmantel mit Gürtel und mit einem völlig aus der Mode gekommenen karierten Reisekoffer. Ganz hinten, in der letzten Reihe, dann noch zwei Männer. Der linke, am Fenster, ein schmächtiger Kerl. Fettig wirkende Haare, Seitenscheitel und Kinnbart, feste Wetterjoppe und gute Winterschuhe. Er hatte sich die ganze Zeit in regelmäßigen Abständen eine Handvoll Erdnüsse aus der Jackentasche geholt, um sie sich mit zwei Fingern einzeln in den Mund zu schieben. Nun tat er das nicht mehr. Neben ihm, etwas älter wirkend, ein gut aussehender Mann im schwarzen Anorak. Das Haar schon etwas schütter, die Haut glattrasiert, neugierige braune Augen mit gepflegten Augenbrauen darüber. Die beiden schienen sich zu kennen, denn sie hatten sich zuvor vertraut miteinander unterhalten.
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