»Glaubst du wirklich, er beobachtet uns?«
Ulrich wiegte den Kopf. »Nicht ausgeschlossen. Vielleicht hat er aber auch einen zweiten Mann hier irgendwo. Möglicherweise sogar im Zug. Oder er steigt später zu. Wir sollten die Fahrgäste unbedingt im Auge behalten.«
Ricks unglückliche Miene veranlasste den Schwager, ihm einen Klaps auf die Schulter zu geben. »Kopf hoch. Das wird schon.«
Der Rangierer schien es heute nicht besonders eilig zu haben. Er machte nun eine hohle Hand, um sich eine Zigarette anzustecken, dann schwatzte er noch ein wenig mit der Zugbegleiterin, die ihm einen Platz unter ihrem zerzausten Schirm anbot, den sie kaum zu bändigen vermochte. Während sie fast nur zuhörte und fortwährend über seinen Monolog lachte, hatte der Mann das Paneel mit den kleinen Hebelchen, das Rick eher an die Steuereinheit einer Modelleisenbahn erinnerte, nun abgeschnallt und über die Schulter gehängt. Gestenreich untermalten seine Hände die Worte, die den Mund verließen. Die Zigarette zwischen den Lippen wippte dabei ständig auf und nieder.
Rick rümpfte die Nase. Er hatte nicht daran gedacht, einen Schirm mitzunehmen. Langsam kroch die Nässe auf seine Schultern. Da verabschiedete sich der Rangierer nach einem Blick auf die Uhr von seiner Kollegin, die ihm das Paneel aus der Hand nahm und sich zurück an die Spitze des Zuges begab. Im Gehen winkte sie ihm noch einmal zu.
»Der hat Feierabend! Sie bringt die Fernsteuerung zu einem anderen Rangierer! Was machen wir jetzt, Ulrich?«
»Nichts, Mann. Es ist doch völlig zweitrangig. Reiß dich jetzt zusammen, Rick!« Der Schwager brauchte nicht viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. »Los! Wir gehen.«
Ulrichs schroffe Erwiderung machte Rick bewusst, wie schwer es ihm selbst gerade fiel, Dinge richtig einzuordnen. Er griff nach der fliederfarbenen, gut gefüllten Sporttasche, die bis eben zu seinen Füßen auf dem nassen Pflaster gestanden hatte und an ihrem Boden nun einige dunklere Flecken zeigte, und ging eiligen Schrittes dem Schwager hinterher. Doch er merkte selbst, dass ihm die Souveränität fehlte. Wie ein Kind sehnte er sich jetzt in seine Hexenküche zurück, einem kleinen Backstübchen zum Ausprobieren und Kreativsein, sozusagen das Hirn seiner Bäckerei Emmeran, die jeden Tag den halben Landkreis mit frischem Brot und knusprigen Brötchen versorgte.
Diese Hexenküche war einer seiner Lieblingsplätze. Dort konnte er Entscheidungen treffen, die sich richtig anfühlten, die die Firma voranbrachten. Dafür hatte er ein Händchen. Für Aktionen wie diese hier war er einfach nicht geschaffen.
Der Rangierer kam ihnen nun vom Ende des Bahnsteigs entgegen, hatte sich den Kragen seines Pullovers hochgeschlagen und die Schultern in den Nacken gedrückt, um dem Regen zu trotzen. Er hielt auf den Ausgang zu. Als sein linker Arm in einem Augenblick der Unachtsamkeit mit Ricks Sporttasche kollidierte, die dieser gerade wie einen Obstkorb in der Armbeuge trug, weil er dabei war, sich mit dem Taschentuch die Brille zu säubern, geschah etwas, das für die Ereignisse danach nicht folgenlos bleiben würde. Rick merkte es sofort, ohne dass er es noch verhindern konnte. Die Beretta, die unter seiner Jacke aus dem Gürtel gerutscht war, fiel direkt vor dem Mann auf das Pflaster. Eine Chance, dass der Rangierer die Waffe übersah, gab es nicht.
Sie wirkte eher unscheinbar und auf jeden Fall harmlos, wie sie da einen halben Meter von Ricks Füßen entfernt lag. Schwarzer Stahl und klare Linien. Doch die Reaktion des Bahnangestellten war genau die, die man von ihm in einer solchen Situation erwarten musste. Eine Sekunde benötigte er, um die Lage zu erfassen, dann kickte er die Waffe beiseite und griff schon zu seinem Handy. Ohne zu zögern, drückte Ulrich, der das verräterische Fallen der Waffe ebenfalls gehört hatte, dem Mann die Mündung der eigenen Pistole an den Hals. »Zurück zum Waggon!«
Ulrich musste seine Aufforderung wiederholen, ehe der Mann sich zögernd bewegte. Rick klaubte die Beretta wieder auf und hielt sich dicht hinter den beiden, sicherte so leidlich ab, dass diese Geiselnahme der Welt zunächst verborgen blieb. Der Rangierer war kräftig, hatte breite Schultern. Er blieb sogar unbewaffnet ein nicht zu unterschätzender Gegner, sollten sie unvorsichtig sein. Er hatte begriffen, dass er von zwei Männern mit einer Pistole bedroht wurde, aber den Sinn dieser Aktion verstand er selbstredend nicht. »Was soll das werden?«, fragte er mit fester, kratziger Stimme. »Halten Sie das da für einen Postzug voller Geld?«
»Maul halten! Schneller, gehen Sie! Wir meinen es ernst! Zurück zum Waggon! Steigen Sie wieder auf die Plattform und tun Sie genau das, was ich Ihnen sage. Die Knarre ist geladen und ich kann damit umgehen!«
Rick zitterte schon wieder. Ulrich klang jetzt tatsächlich wie ein Verbrecher. Bloß keinen Fehler machen. Selbst einfache Handlungen wie das Einsteigen in einen Zug wuchsen plötzlich zu großen Herausforderungen heran.
Tatsächlich. Es funktionierte. Nach einem Moment des trotzigen Zögerns ging der Mann nun, mit kleinen Schritten zwar, aber dennoch zielgerichtet los, erreichte den letzten Waggon, fasste nach der Haltestange und zog sich mit geübtem Griff auf die Plattform hoch. Ulrich folgte ihm, dann Rick. Die Mündung von Ulrichs Waffe zeigte wieder auf das Gesicht des Rangierers.
»Was wollen Sie?«, fragte der nochmals und versuchte das Kratzen wegzuräuspern.
»Rufen Sie jetzt die Zugbegleiterin zurück!«
Kopfschütteln. Seine Kollegin bringe er nicht in Gefahr, krächzte der Mann trotzig. Erst als Ulrich die Waffe mit einem deutlich hörbaren Klicken entsicherte, überlegte er es sich anders.
Rick verfolgte Ulrichs Aktion mit Fassungslosigkeit. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sein Schwager plante. Er wusste nur, dass sie dafür in den Knast wandern würden. Bisher hätte alles noch als eine Art Notwehr gelten können, doch dies war eine Geiselnahme! Man konnte nicht ein Verbrechen mit einem anderen bekämpfen.
Der Rangierer beugte sich vor, um Sichtkontakt zu bekommen, und rief energisch den Namen Simone. Als sie reagierte, winkte er ihr, zurückzukommen.
Rick und Ulrich hatten sich bis zum letzten Moment auf der Plattform vor ihr verborgen; als sie nahe genug war, sprang Ulrich vom Waggon. Mit der Waffe in ihrem Rücken schob er die überraschte Frau nach oben zu den anderen und schloss den Sicherheitsbügel hinter sich. Es war nun eng auf dem kleinen Vortritt des Wagenkastens. Rick war unschlüssig, was er tun musste. Sollte er die Tür öffnen und in den Waggon hineingehen?
»Das Bedienpult!«, forderte Ulrich im nächsten Moment von der Zugbegleiterin. Mit schreckgeweiteten Augen, aber ohne ein einziges Wort reichte die Frau ihm das Paneel.
»Was hast du vor?«, fragte Rick zischelnd. Dass er seine Ahnungslosigkeit preisgab, war ihm nun egal. »Der Zug fährt erst in knapp zwanzig Minuten! Das schaffen wir nie, so lange hier nicht aufzufallen! Bis dahin hat der ganze Bahnhof mitbekommen, was hier vor sich geht!«
»Abwarten!« Ulrich schob dem Rangierer das Pult in die Hand. »Sie starten jetzt den Zug!« Um seiner Forderung mehr Nachdruck zu verleihen, drückte er die immer noch entsicherte Waffe in dessen Gesicht. »Machen Sie schon!«
Der Eisenbahner, dessen stoppelige, wettergegerbte Wangenhaut vom Lauf der Pistole nun seltsam deformiert war, begann einen letzten, vorsichtigen Versuch des Widerstands. »Hören Sie! Das hier ist keine Straße. Wir haben eine eingleisige Strecke mit anderen Zügen im Gegenverkehr. Sie kommen nicht weit.«
Der Schuss durchschlug mit einem fürchterlichen, trockenen Knall das Tonnendach des Waggons und hinterließ ein kleines, aber eindrückliches Loch in seinem Blech. Feiner, kaum sichtbarer Rauch kroch aus der Mündung der Waffe.
Nun wusste der Rangierer, dass Ulrich nicht bluffte. »Sind Sie irre?«, entfuhr es ihm, doch er griff ohne weiteres Zögern zu seinem Paneel und nach zwei, drei Handgriffen gehorchte die Diesellok: Der Motor schlug mit einem kurzen Bellen an, ging dann in ein dumpfes Brummen über und entfaltete vorsichtig seine Kräfte. Der Zug setzte sich tatsächlich in Bewegung. Bänke, Masten und zwei tropfnasse Fahrräder, die zur Verladung bereitstanden, zogen vorbei. Die wenigen Menschen, die sich bei dem Wetter neugierig und in Regencapes gehüllt auf die große Aussichtsplattform gleich neben dem Stellwerk gewagt hatten, um den Dampflokschuppen zu besichtigen, hatte der Knall der Beretta erstarren lassen.
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