Lore hatte die Szene ebenso angespannt verfolgt wie die anderen Geiseln; doch sie beobachtete auch genau. Die beiden kannten sich hier aus. Niemand von außerhalb würde den Namen der winzigen Straße kennen, die sie gerade passiert hatten. Und Ulrich hatte nicht reagiert, als eben sein Name gefallen war. Es schien den beiden also egal zu sein, dass sie schnell zu identifizieren sein würden.
Der Zug fuhr nun eine langgezogene Rechtskurve und passierte, wiederum laut pfeifend, unbehelligt die belebte Kreuzung. Alles war wie immer. Man erkannte Autoschlangen an den Ampeln und Passanten, die geduldig warteten, bis der Zug die Kreuzung verlassen hatte. Der Brillenträger atmete durch, lächelte sogar ein wenig, kam nun auf die Fahrgäste zu, die gleichzeitig ja doch seine Geiseln waren. Was er sah, ließ das Lächeln sofort wieder verschwinden. Das junge Mädchen, das sich abermals ihren Platz ganz in der Ecke ergattert hatte und nun mit angezogenen Beinen anscheinend teilnahmslos dasaß, tippte auf ihrem Handy herum. Offenbar war sie dabei, eine Nachricht zu versenden. Als der Mann es ihr aus der Hand riss, fuhr sie hoch und griff danach. Er stieß sie weg, doch das schreckte sie keineswegs, sie sprang geradezu auf ihn los, klammerte sich an seiner Jacke fest und versuchte, ihr Eigentum zu erreichen. Dass er eine Waffe hatte, schien nicht den geringsten Eindruck auf sie zu machen. Bevor die Situation weiter eskalierte, war Ulrich herbeigeeilt und versetzte dem Mädchen einen kraftvollen Stoß, der sie unsanft auf ihren Platz zurückbeförderte.
»Die Handys! Von allen!«, forderte er, ging durch den Gang und kassierte sie der Reihe nach ein. Die Handfeuerwaffe in der Hand des Mannes, deren Mündung vor ihren Gesichtern kreiste, ließ alle anderen ohne Widerstand gehorchen. Bis auf Frau Freytag, die kein Mobiltelefon besaß. Der Kerl musste sich die Geräte in die Tasche stopfen, mit einer Hand konnte er nicht alle halten. Doch nun fackelte er nicht lange. Fünf Sekunden später lagen sie allesamt im Gleisbett, während der Zug davoneilte.
»Reiß dich jetzt zusammen!«, zischte er seinen Komplizen an und schloss von außen die Waggontür. Dem Brillenträger blieb wiederum die Aufgabe, ihre Geiseln zu bewachen.
Das junge Mädchen hatte noch nicht aufgegeben. Unvermittelt sprang sie auf und stürzte auf die Notbremse zu, hatte sie sogar schon beinahe erreicht, da griff sie der Kidnapper am Arm und fauchte: »Setz dich wieder hin. Bitte!« Er konnte offenbar zupacken; das Mädchen riss sich los, rieb sich den Oberarm und verzog sich in ihre Ecke.
»Ihr Verbrecher!«, schimpfte der alte Mann. »Meine Frau steht noch auf dem Bahnsteig!«
»Die wird schon auf Sie warten …«, bekam er als Antwort.
Die Wanderliebhaberin hatte zu weinen angefangen. Ihr Mann hielt ihre Hand und versuchte, sie zu trösten. Zwischendurch machte er dem jungen Mädchen mit der Wollmütze leise Vorwürfe. Wäre es nicht so provokant aufgetreten, dann hätten sie ihre Handys jetzt noch. Die Kleine schaute wütend durch das tropfenbenetzte Fenster und reagierte nicht.
Lore hatte ihr Telefon noch in der Tasche. Das Diensthandy war soeben auf den Gleisen zerschellt. Ihr privates hatte sie nicht herausgerückt. Es war ein Risiko gewesen, doch mit ihrer Einschätzung, dass die beiden vergessen würden, nach einem Zweithandy zu fragen, hatte sie richtiggelegen. »Darf ich mal auf die Toilette, bitte …«, fragte sie, nachdem sich alle etwas beruhigt hatten.
Kapitel 3
10.18 Uhr. Rangierlokführer Urbanek überlegte angestrengt, was er gegen die beiden Kriminellen, denen offensichtlich die Sicherungen durchgebrannt waren, tun konnte. Und er ärgerte sich. Hätte er die Funkfernsteuerung ordnungsgemäß seinem Kollegen übergeben und nicht einfach Simone, der Zugbegleiterin, in die Hand gedrückt, wäre dies vielleicht alles nicht passiert. –
Holger Matthies, Polizeibeamter im Revierkommissariat Wernigerode, ahnte in diesem Augenblick noch nichts von der Entführung des Zuges, doch selbst wenn er es täte, würde es ihn vermutlich auch nicht mehr erstaunen. Manchmal erwischte man in der Reihe der ungezählten ruhigen, oft sogar eintönigen Schichten so eine wie heute, da kam eben alles zusammen.
Wie meistens war er mit seiner Kollegin Lore Sikora auf Streife gefahren und es schien eine ganz normale Nacht zu werden. Er mochte Lore. Man konnte sich auf sie verlassen.
Lore war zehn Jahre älter als er, also fünfzig, und einen Dienstgrad höher. Ihr Lockenschopf umrahmte ein etwas grob geschnittenes, immer braungebranntes Gesicht. Sogar jetzt noch, im November, wo alle Leute blass waren wie ein Eimer Kalk. Wie sie das anstellte, war ihm ein Rätsel. Dass sie sich unter eine Sonnenbank legte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sie war keine Schönheit, keine Frau, auf die die Männer flogen. Eher der Typ zupackende Bäuerin. Seit sie sich kannten – seit fünfzehn Jahren –, war sie solo und stets auf der Suche.
Wenn man unzählige Stunden zusammen in einem Streifenwagen verbrachte, erzählte man sich so manches. Besonders in den Nachtschichten. Wernigerode war nicht Hamburg St. Pauli oder Berlin Kreuzberg. Neben den üblichen Einsätzen, von Verkehrsunfällen bis zu ruhestörendem Lärm aus einer Wohnung, hatten sie es vor allem mit Kleinkriminalität zu tun. Der Klientenkreis war überschaubar. So ein Fall wie vor einer Woche, als alle vier Räder von einem Mazda gestohlen worden waren, zählte dann schon zu den größeren Vorkommnissen. Die Täter hatten die Dreistigkeit besessen, das Fahrzeug immer an einer Ecke anzuheben und auf ein paar Betonpflastersteine aufzubocken. Es mussten drei gewesen sein, denn die Spurensicherung hatte von allen Fingerabdrücke gefunden, die eindeutig der Tat zuzuordnen waren. Dann konnten sie in aller Ruhe die Räder abschrauben. Gefasst hatten sie die Typen noch nicht. Doch das würde noch passieren, irgendwann. Holger war sich sicher.
In der Regel jedoch schoben sie einen ziemlich ruhigen Dienst. Da geschah auch schon einmal zwei Stunden gar nichts. Freitags vielleicht oder samstags, da war mehr los. Da wollten die Leute das Wochenende feiern. Doch heute war Dienstag. Wenn man nicht wieder einrücken sollte, fuhr man in gemächlichem Tempo mehr oder weniger ziellos durch die Straßen oder postierte sich am Bahnhof oder in der Nähe einer der wichtigen Kreuzungen der Stadt. Und dann kam man ins Plaudern, sprach neben dem üblichen Klatsch über Kollegen auch Dinge aus, die man bei Tage niemals preisgegeben hätte. Später, wenn man darüber nachdachte, bereute man es vielleicht. Die Nacht schaffte sich ihre eigenen Regeln.
Lore wollte stets viel über seine Familie wissen, obwohl es da im Grunde genommen kaum etwas zu berichten gab. Seit er verraten hatte, dass Luna, seine Frau, schwanger war, ließ sie nicht mehr locker. Luna war erst im dritten Monat. Er glaubte, dass sie ein Problem damit hatte, sechzehn Jahre nach der Geburt von Daniel noch ein zweites Kind zu bekommen. Über weiteren Nachwuchs hatten sie nie geredet. Für Holger war ihre gemeinsame Familienplanung eigentlich abgeschlossen gewesen. Als sie ihn dann an einem Sonntagabend nach der Schicht mit der Nachricht überraschte, freute er sich, wie er sich lange nicht gefreut hatte. Sie aber beobachtete ihn und verlor später über eine mögliche Abtreibung nie auch nur ein einziges Wort. Nun also doch noch eins, wieder alles von vorn. Windeln, Fläschchen, Babysitter. Er durchschaute sie. Sie wollte das eigentlich nicht mehr. Doch zugeben würde sie es niemals. Stattdessen ging sie neuerdings gerne ihre eigenen Wege. Entweder saß sie stundenlang, den Harz durchstreifend, auf ihrem Mountainbike und kam mit Morast bekleckert zurück oder sie schrieb langweilige Kochbücher über ernährungsphysiologisch wertvolle Speisen. Zwei hatte sie bereits fertig. Die schickte sie dann an Verlage und Frauenzeitschriften in der Hoffnung, dass jemand auf sie aufmerksam würde. Zusammen unternahmen sie nicht mehr viel. Früher war das anders gewesen. Holger hoffte, dass sich das wieder änderte, wenn das Kind erst da war.
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