Vanuzzi lenkte den Wagen Richtung Autobahn, dann gab er Vollgas bis zum Bonner Verteilerkreuz. Es war 21.05 Uhr, als er an Schloss Deichmannsaue in Bad Godesberg ankam.
Die eigentliche Residenz des US-Botschafters lag mehr als einen Kilometer entfernt, doch das Gros der Botschaftsangehörigen war in einem Nebengebäude des Schlosses am Rheinufer untergebracht. Unter »Schloss« hatte sich Vanuzzi allerdings etwas anderes vorgestellt. Dies hier war nicht viel mehr als eine aufgeblasene Villa, und die daran anschließenden Erweiterungsbauten hatten den Charme einer Marines-Kaserne in Central Indiana. Der Wachsoldat am Eingangstrakt sah ihm genervt entgegen, um diese Uhrzeit hatte hier niemand mehr etwas verloren, schon gar nicht jemand in einer abgewetzten Fliegerjacke. Vanuzzi selbst arbeitete zwar schon lange nicht mehr für US-Dienste, aber er kannte noch immer die wichtigen Namen, und das öffnete ihm einmal mehr Tür und Tor. Er folgte einem zweiten Mann in Uniform zu einem etwas versteckt liegenden Seiteneingang, dann über zwei Treppen und mehrere Flure in die Tiefen des Gebäudes. Der Uniformierte platzierte ihn in einem Zimmer, das größer war als Vanuzzis Wohnung, außer einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Bücher- und Aktenschrank aber nichts enthielt. Und niemanden. Als Vanuzzi auf seine Uhr schaute, waren zehn Minuten vergangen, ohne dass etwas geschehen war. Dann öffnete sich eine Nebentür und der Mann, den er suchte, trat ein.
Graeme van Doren war in Vanuzzis Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Mittelgroß, Schnurrbart, nach unten ziehende Augen- und Mundwinkel, dazu schütter werdendes grau-braunes Haar. Er hatte noch einmal deutlich Gewicht zugelegt, seit Vanuzzi ihn zuletzt gesehen hatte, wirkte steifer, schwerfälliger, umständlicher in seinen Bewegungen. Er stammte zwar aus keiner der »First Families«, die mit der Mayflower in die neue Welt gekommen waren, doch die van Dorens gehörten zu denjenigen niederländischen Händlern, die Nieuw Amsterdam, das spätere New York, mitbegründet hatten. Sein Akzent ließ auf eine exzellente Ausbildung an einer Universität in Neuengland schließen, welche eine Laufbahn im diplomatischen Dienst vorgezeichnet hatte; selbst seine Arbeit für den ehemaligen Heeresnachrichtendienst CIC, wo sie sich kennengelernt hatten, war nur eine Station auf dieser Karriereleiter, die van Doren nun in die US-Botschaft in der BRD geführt hatte.
»Vanuzzi … behalten Sie Platz. Was kann ich gegen Sie tun?«
Van Dorens sonore Tenorstimme wurde von einem leisen hohen Knurren begleitet.
»Ganz ruhig, Mister Cough.«
Vanuzzi entdeckte einen Yorkshireterrier, der neben van Dorens Füßen verharrte.
»Mister Cough …?«
Van Doren gab dem Hund ein Zeichen, es ertönte ein Geräusch wie ein heiseres Husten.
»Meine Kinder haben so lange gebettelt, ihn zu bekommen. Jetzt hab ich die ganze Arbeit mit ihm.«
»Und doch, man weiß nicht, wie, dreht die Welt sich weiter. – Sie rauchen nicht mehr, Veedee? Oder lüften Sie den lieben langen Tag?«
»Au contraire, mon cher, ich habe auf Zigarren umgestellt. Wir haben ein eigenes Rauchzimmer mitsamt Humidor, ist das nicht reizend?«
Van Doren hatte sich einen Whiskey eingeschenkt und deutete mit dem Zeigefinger darauf. Vanuzzi schüttelte den Kopf. Dann setzte sich der Botschaftsangehörige hinter seinen Schreibtisch.
»Sind Sie eigentlich direkt von der CIA übernommen worden, als das CIC abgewickelt wurde, Veedee?«
»So wie Sie vom Mossad, als Sie das CIC verraten haben?«
»Also ja.«
»Sie wissen, dass ich Sie töten müsste, wenn –«
»Wenn Sie ehrlich darauf antworten. Der Witz ist so alt wie die Tora.«
»Konversation war noch nie Ihre starke Seite, Dan.«
Vanuzzis Blick streifte das Abschlussklassenfoto hinter van Dorens Kopf.
»Nicht jeder von uns hatte das Glück, in Harvard Konversation zu üben.«
»Nicht jeder bringt es nach Harvard. Was wollen Sie um – gütiger Gott! – halb zehn in der Nacht von mir, Dan?«
»Sie daran erinnern, dass Sie mir einen Gefallen schuldig sind.«
Van Doren kräuselte die Nase, kniff die Augen zusammen und lachte.
»Ihr Verrat hätte mich damals fast meinen Job gekostet!«
Vanuzzi zuckte mit den Schultern.
»Ach was, mit Ihren Verbindungen haben Sie das Problem leicht wieder ausgebügelt. Man schiebt alles Ihrem Vorgesetzten in die Schuhe und Sie rücken nach, sobald der erste Sturm vorüber ist.«
» Meine Verbindungen, Sie sagen es. Ich sehe nicht, warum ich Ihnen dafür einen Gefallen schuldig bin.«
»Dann helfe ich Ihrem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge: das Dossier mit den Namen von Sowjet-Agenten, das ich Ihnen vor vier Jahren unter den Weihnachtsbaum gelegt habe …?«
»Ach das … das hätten wir ohnehin von den Briten bekommen, die teilen brüderlich.«
»Mag sein. Aber nicht so schnell. Auf meine Weise hatten Sie mehr Zeit, es auszuwerten.«
»Sie hatten schließlich auch was davon. Dass Sie hier einfach so reinspazieren können, ohne dass ich Ihnen Handschellen verpasse … als Sie kurz nach dem Krieg zu den Israelis übergelaufen sind, war das Landesverrat. Das hätte Sie eigentlich den Kopf kosten müssen!«
»Denken Sie an die Sowjet-Spione, die durch mich enttarnt wurden.«
»Was wollen Sie, Dan? Einen Orden?«
»Reden. Über Algerier, Deutsche und Franzosen.«
Nase kräuseln, Augen zusammenkneifen – van Doren lachte.
»Sie glauben, das sei mein Thema?«
»Bekommen Sie hier nicht ständig Besuch von den Franzosen?«
»Ich arbeite für die Botschaft.«
Vanuzzi lachte ebenfalls.
»Aber natürlich, und wenn ein Pferd umfällt, hat ihm einer ein Bein gestellt.«
Van Doren blickte durch Vanuzzi hindurch.
»Algerien, sagen Sie?«
Er nahm das Telefon zur Hand und wählte eine kurze Nummer.
»Mo noch im Haus?«
Einige Sekunden vergingen, dann sagte van Doren: »Gut, schicken Sie ihn rauf.«
Kurz darauf trat ein hoch aufgeschossener Endzwanziger in militärischer Ausgehuniform ein. Er hatte große Ähnlichkeit mit Gregory Peck in Des Königs Admiral , roch nach teurem Aftershave und nahm Habachtstellung an. Van Doren bot ihm keinen Platz an.
»Mo Mahmoudi – Dan Vanuzzi. Woher stammt Ihre Familie, Mo?«
»Aus Connecticut, Sir.«
»Nein, ich meine: ursprünglich.«
»Oh, aus der Nähe von Oran in Algerien, Sir.«
»Mister Vanuzzi hier interessiert sich sehr für Ihre alte Heimat. Vielleicht können Sie ihm etwas aus erster Hand darüber erzählen.«
»Sehr gern, Sir. Womit soll ich beginnen?«
»Am besten am Anfang. Seit wann sind die Franzosen überhaupt in Algerien?«, fragte Vanuzzi.
»In den 1830er-Jahren hat Frankreich begonnen, das Land zu erobern, Sir. Es war die erste und größte Kolonie. Um das Land unter Kontrolle zu bringen, hat man an der Nordküste gezielt Franzosen angesiedelt und die Einheimischen ins Hinterland vertrieben. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts gab es dann mit Großbritannien einen regelrechten Wettlauf um Afrika. Frankreich versuchte, einen geschlossenen West-Ost-Korridor zu errichten. Die Folge davon war, dass Algerien in einem riesigen Kolonialgebiet aufging.«
»Das hat den Leuten natürlich nicht gepasst.«
»Sie hatten ihre Freiheit verloren, Mister Vanuzzi. Als Frankreich dann begann, die Menschen einzuteilen in französische Bürger und französische Untertanen und Christen mehr Rechte einräumte als Juden oder Muslimen, regte sich Widerstand im Volk. Auch weil sich die französischen Siedler mit billigen muslimischen Arbeitskräften riesige Industrieimperien aufbauen konnten und wegen des Wucherverbots im Koran das Bankenwesen vollständig kontrollierten.«
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