Montgomery Cuthred Hanson, seit zehn Jahren Vanuzzis Case Officer, der Mann, der ihn zum MI6 gebracht hatte, war das Abziehbild eines Engländers: Er trug sogar im Sommer Melone und Handschuhe, dazu Harris-Tweed-Dreiteiler, die er sich, wie er nicht müde wurde zu betonen, aus Hawick schicken ließ. Auch seinen Regenschirm betrachtete er – eingedenk des nicht besonders regnerischen Wetters in Bonn – als Zeichen der Distinktion. Mittelgroß, früh ergraut, glattrasiert, ging von ihm bei jeder Bewegung ein Hauch seines Eau de Toilette von Floris London aus, das Vanuzzi kräftig in der Nase kitzelte.
Vanuzzi ging einige Schritte in Montys Rücken an der Bank vorbei, streckte sich und blickte in den Himmel. Mit Ausnahme des Großen Wagens konnte er keine Sterne entdecken. Dann hörte er das Umblättern von Zeitungsseiten, schlenderte zurück und setzte sich Rücken an Rücken mit seinem Case Officer.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie gegen Restaurants haben, Monty.«
»Dies ist kein offizieller Fall, schon gar keiner von uns. Es ist besser, wenn meine Kollegen nichts mitbekommen, sonst tratschen sie bloß.«
Wieder raschelte es, wahrscheinlich faltete der Brite seine Gazette.
»Man sieht kaum die Hand vor Augen, das mit der Zeitung ist albern.«
»Ich komme immer um diese Zeit hierher und tue so, als würde ich lesen. Dann muss ich nicht mit den Leuten reden. Sobald die einen englischen Akzent hören, fangen sie an, sich zu rechtfertigen, was sie im Krieg getan oder nicht getan haben. Aber niemand quatscht einen Irren an, der im Dunkeln Zeitung liest.«
»Keeping a low profile geht trotzdem anders.«
»Ich wäge ab zwischen meinem Seelenfrieden und der richtigen Haltung zu meinem Job. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem mir mein Seelenfriede wichtiger wird. Warten Sie zehn Jahre, Dan, dann geht’s Ihnen auch so.«
Vanuzzi schnaubte amüsiert. Monty tat immer noch so, als ob er der wesentlich Ältere und Lebenserfahrenere wäre, dabei trennten sie kaum drei Jahre.
»Ein Franzose, eins fünfundsiebzig, hellbraune Locken –«
»Sélestat. Ich habe ihm gesagt, wie er Sie erreichen kann.«
»Vermutlich Résistancekämpfer, die haben als Nom de guerre oft die Stadt genommen, aus der sie stammen. Wo auch immer dieses Sélestat liegt.«
»Im Elsass.«
Das erklärte allerdings das schleppende, kehlige Deutsch des Mannes.
»Wie heißt er wirklich?«
»Thierry. Den Nachnamen weiß ich nicht.«
»Monty …?«
»Ich habe ihn vergessen. Vielleicht habe ich ihn auch nie gewusst. Er war immer Sélestat. Arbeitet für den französischen Auslandsgeheimdienst.«
»SDECE? Im Krieg haben sich eure Dienste gegenseitig beharkt. Ich wusste gar nicht, dass Briten und Franzosen seit Neuestem Liebesheiraten eingehen.«
»Das tun sie auch nicht. Franzmänner sind paranoid, sie glauben, dass die Queen ihnen höchstpersönlich die Kolonien wegnehmen möchte. Sie vergessen, dass auch wir kaum mehr Land in Afrika besitzen. Was für eine Schande!«
»Ja, früher war einfach alles besser. Zurück zu Sélestat –«
»Ich möchte es Goodwill nennen, Dan. Seht her, ihr Franzosen, wir helfen euch, die Kolonien zu behalten, und schicken euch sogar unsere Leute dafür.«
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
»1940, in Dünkirchen. Die Nazis hatten uns eingekesselt, wir wären alle verreckt oder in Kriegsgefangenschaft gekommen – und dann auch verreckt, nur bedeutend langsamer. Ich ganz sicher. Ich hatte einen Granatsplitter im Bein, es drohte, brandig zu werden. Ich lag bewegungsunfähig am Strand, als Air Force und Navy uns rausholen kamen. Allein hätte ich es nicht aufs Schiff geschafft.«
»Sélestat hat Ihnen geholfen?«
»Hmhm. Und dann habe ich ihm geholfen. Es war Order ergangen, dass nur britische Soldaten herausgeholt würden. Also habe ich ihn kurzerhand in die Uniform eines toten Kameraden gesteckt und erzählt, dass er taubstumm sei. Sein Englisch war grauenhaft, es hätte ihn verraten. Er ist bis ins Krankenhaus nicht von meiner Seite gewichen.«
»Allein wäre er auch aufgeflogen.«
»Trotzdem verdanke ich ihm wohl mein Leben. – Na, sind Sie jetzt gerührt, Dan?«
Vanuzzi lachte.
»Sie sind ihm also noch etwas schuldig, Monty?«
»Wie gesagt: Goodwill. Aber es hat auch damit zu tun, dass das Vereinigte Königreich mit Sorge auf die Ereignisse in Algerien blickt.«
»Algerien?«
»Er hat Ihnen nicht gesagt, worum es geht?«
»So weit sind wir nicht gekommen.«
Monty atmete hörbar aus. Dann sagte er: »Ich bin altmodisch, Dan, ein Verfechter der britischen Kolonialpolitik. Wenn Frankreich einknickt, wird auch das Empire unwiderruflich zerbrechen. Wir können unseren Eingeborenen nicht gut erklären, warum ihre Nachbarn plötzlich unabhängig sind, sie selbst aber Untertanen der britischen Krone bleiben. Verlieren wir nach Indien auch noch die afrikanischen Kolonien – nun, es gibt Kreise in meinem Land, die warten nur auf eine solche Gelegenheit, um zu putschen.«
»Sie denken, diese Unabhängigkeitsbewegung ist ein Virus, das sich ausbreitet?«
»Der FLN findet immer mehr Nachahmer in unseren Kronkolonien. Er ist mir an und für sich schon ein Gräuel.«
»FLN. Das sind die algerischen Separatisten?«
»Front de libération nationale. Eine kommunistische Kaderpartei. Sie wird von Moskau dirigiert. Überhaupt scheinen mir dieser Tage alle Algerier Kommunisten zu sein.«
Vanuzzi schwieg.
»Ich erinnere mich noch, als Sie ’56 aus Ungarn zurückkamen, Dan. Der Hass in Ihren Augen … die Sowjets hatten gute Freunde von Ihnen erschossen. Wenn Sie noch immer die kommunistische Weltrevolution aufhalten möchten –«
»Whoa, whoa, geht’s noch ein bisschen größer?«
»Wenn Sie ein Hühnchen mit den Sowjets rupfen wollen: Dies ist die perfekte Gelegenheit dafür. Es wird nur wichtig sein, dass Sie die Leute, die Sie jagen, in Frankreich übergeben, nicht in der BRD. Sélestat soll Ihnen erklären, warum. Sie müssen sich beizeiten um gute Pässe kümmern, Dan, für sich selbst und Ihre algerischen ›Gäste‹.«
»Okay, das hab ich hinterm Ohr. Sollte ich weitere Fragen haben –«
»Werde ich Ihnen ganz sicher nicht weiterhelfen können. Ich weiß nichts von Algerien und will davon auch nichts wissen. – Weidmannsheil!«
Von einer nahe gelegenen Kapelle drang Glockenklang herüber. Vanuzzi hörte Monty aufstehen, hörte, wie der die Zeitung in den Mülleimer warf. Dann sah er dem Briten hinterher, der schwerfällig in der Tiefe des Parks verschwand.
Es war Wochen her, seit er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Was nicht nur an Vanuzzis verschobenem Tag-Nacht-Rhythmus lag. Rauch und Industrienebel breiteten sich so dicht über und in den Straßen von Essen aus, dass man kaum dreißig Meter weit sehen konnte. Angeblich hatte der Smog seit Herbstbeginn schon zwanzig Menschen getötet. Wo er wohnte, schien alles zu kulminieren: Wenn die Kokerei, die nur wenige Straßen weiter lag, Koks drückte, hüllten riesige Rauchschwaden das Haus ein. Von Chicago war er so einiges gewöhnt, aber das hatte ihn doch nicht auf das Leben im Ruhrgebiet vorbereitet.
Sélestat hatte einen Treffpunkt in Köln gewählt. Im piefigen katholischen Bonn wäre um dreiundzwanzig Uhr wahrscheinlich auch nichts mehr offen gewesen. Chez René , der Name ließ auf nichts Gutes schließen. Von außen sah er verrammelt aus, zwei kleine Fenster an der Vorderfront waren so abgeklebt, dass man nicht hineinsehen konnte. Vanuzzi rechnete mit einem Gorilla als Einlasskontrolle. Er atmete vorsorglich tief durch, um nicht gleich zu explodieren; er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, von Männern betatscht zu werden. Doch zu seiner Überraschung betrat er den Laden ohne Musterung.
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