Im Infight war Vanuzzi dem Deutschen überlegen, doch seine Uppercuts hatten bislang keinen Erfolg erzielt. Mittlerweile hielt ihn der Kerl auf größerer Distanz – Kunststück!, er war fast zehn Zentimeter größer als Vanuzzi, ein Hüne von zwei Metern Körperlänge.
Es war nicht sein erster Kampf in den letzten Monaten – aber der erste, dessen Ausgang tatsächlich offen war. Bei den anderen hatte ihm irgendeiner dieser schmierigen Typen wenige Stunden vorher gesagt: »Du gehst runter, Ami, aber nicht vor Runde vier, kapiert?«
8–9–2. Acht Siege, neun Niederlagen, zwei Unentschieden. Seine Bilanz musste ausgeglichen sein, sonst wäre mit den Wetten auf ihn kein Geld zu verdienen gewesen. Mit seinem italienisch klingenden Namen hätte er hier gar nicht erst aufzutauchen brauchen, also hatte er sich einen echten Ami-Namen verpasst: Ted Jackson. Das Publikum, das vermutlich aus Leuten bestand, die immer noch an die Überlegenheit der arischen Rasse glaubten, wollte sehen, wie sein teutonischer Held den verdammten Besatzer vermöbelte. Doch das passierte nur hin und wieder, wenn die mit der Brillantine im Haar ihre Wetten im Vorfeld entsprechend platziert hatten.
Beinahe fünfzig Minuten ging dieser Kampf bereits – lange genug für Vanuzzi, um den Southpaw zu studieren. Und als eine Handbewegung des Ringrichters die beiden Kontrahenten wieder in die Mitte rief, glaubte er, endlich die Lücke in der Verteidigung des Deutschen gefunden zu haben. Ödön, Vanuzzis Sekundant, klatschte ihm zweimal aufmunternd mit den Handflächen auf die Trapezmuskeln. Sofort begannen die Boxer, einander zu belauern, tauschten einige harmlose Jabs aus. Der Deutsche, der zuvor so siegessicher gewesen war, schien durch die Pause aus dem Rhythmus gekommen zu sein. Seine Schläge wurden langsamer, verrieten sich durch eine vorangehende Bewegung in der Schultermuskulatur.
Es war Zeit!
Zwei, drei weitere Jabs, dann setzte Vanuzzi einen Cross, der den Deutschen schwanken und direkt in seinen Powerpunch rennen ließ, einen rechten Haken. Sein Gegner ging auf die Bretter, der Ringrichter schickte Vanuzzi in die neutrale Ecke. Der Deutsche versuchte, sich wieder zu fangen, krabbelte im Kreis, während der Ringrichter zählte und das Publikum johlte, buhte und pfiff. Dann war es vorbei. Vanuzzi spürte, wie eine Hand nach seinem verschwitzten rechten Arm griff, abglitt, noch einmal fester zugriff, um ihn in die Höhe zu befördern. Er stand da, den Arm gereckt, pumpte unentwegt und schaute mit so verengtem Blickwinkel Richtung Publikum, dass er den Ringrichter an seiner Seite kaum erkannte.
Vanuzzi drehte eine Ehrenrunde, trollte sich dann zu seinem Sekundanten. Die beiden verließen den Ring und strebten dem Umkleideraum zu. In weniger als fünf Minuten würde der nächste Kampf beginnen.
Die Umkleide der Boxhalle war eine ehemalige Waschküche. Sie roch nach Schimmel, der die Wände in abstrakten Mustern bedeckte, nach Chlor und Urin. Kaum einer der Boxer ging zum Pinkeln vor die Tür, sie benutzten einfach die beiden Waschbecken, in denen sich nachfolgende Kämpfer ihre Gesichter wuschen. Der Harngeruch ging nicht mehr weg, so viel Lauge sie auch in die Leitungen kippten.
Vanuzzi ließ sich auf eine wacklige Holzbank fallen, die unter seinem Gewicht ächzte. Sein getrübter Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, auf eine Ankündigung aus dem vergangenen Jahr. Eine englische Musikgruppe namens The Beatles trat allabendlich in einem Stripclub auf der Großen Freiheit auf. Es klang nicht nach Jazz, und so verlor Vanuzzi umgehend das Interesse.
Ödön zog ihm schweigend die Handschuhe ab und versorgte seine Wunden. Der junge Mann ließ sich immer wieder zu diesen Freundschaftsdiensten überreden. »Wer soll mich sonst nach den Kämpfen zurückbringen? Mit verklebten Augen kann ich nicht Auto fahren«, erklärte Vanuzzi jedes Mal, und Ödön gab jedes Mal nach, obwohl er das Boxen verachtete. Vanuzzi konnte es ihm nicht verdenken. Er selbst hatte für diese Gladiatorenkämpfe in der Hamburger und Kölner Unterwelt nichts übrig. Aber er brauchte das Geld. Es war zuletzt eine mehr oder weniger sichere Einkommensquelle gewesen. Die einzige.
Vanuzzi hustete, winzige Tröpfchen Blut landeten auf seinen nackten Oberschenkeln.
Dann ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, den er hier noch nie gesehen hatte. Anfang vierzig, gelocktes hellbraunes Haar, Bartschatten, der Mund ein Strich.
»Zutritt nur für Boxer und Betreuer«, schnauzte Ödön.
Der Mann reagierte nicht, trat direkt vor Vanuzzi hin und sagte: »Wohin sind die Wildgänse gezogen?«
Vanuzzi betrachtete ihn skeptisch. Teures Jackett, bis obenhin geschlossenes Hemd und Krawatte – der gehörte eindeutig nicht zur Klientel hier. Außerdem stimmte etwas an seinem Deutsch nicht.
»Die Wildgänse sind nicht gezogen. Sie sind hier und dort und überall.«
»Eine Sekunde nach der Geburt, eine Sekunde vor dem Tod.«
Vanuzzi nickte, schickte Ödön mit einem Blick aus dem Raum und warf sich ein Unterhemd über. Er hasste es, mit bloßem Oberkörper Verhandlungen führen zu müssen.
Der Mann zog eine Packung filterlose Gauloises Caporal und hielt Vanuzzi eine hin.
»Lungentorpedo. Aber Sie können das ab.«
Er gab Vanuzzi Feuer, steckte sich selbst eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
»Also?«, fragte Vanuzzi.
»Nennen Sie mich Sélestat.«
»Nennen Sie mich Jackson.«
Sélestat lachte.
»Sie glauben, dass ich das mit den beschissenen Wildgänsen weiß und dann nicht mal Ihren wirklichen Namen kenne, Vanuzzi?«
Sie maßen einander.
»Gruß von Monty. Aber das dürfte klar sein, oder?«
»Was haben Sie für mich, Sélestat?«
»Sie sind ein Kämpfer, Vanuzzi. Aber sind Sie auch ein Jäger?«
»Kommt auf das Wild an.«
»Zwei kriminelle Elemente, die großen Schaden angerichtet haben und noch größeren Schaden anrichten werden, wenn man sie lässt. Es wäre gut, wenn jemand sie für uns findet und stellt. Nicht, weil wir es selbst nicht könnten … aber es gäbe – gewisse Verwicklungen, wenn wir es tun, und die müssen wir vermeiden.«
»Wer ist ›wir‹?«
»Erst die Antwort, dann die Details.«
»Antwort gibt’s erst, wenn ich weiß, für wen ich arbeite.«
»Sie können hier«, Sélestat führte die Arme weit auseinander und beschrieb einen Kreis, »als mittelmäßiger Boxer weitertingeln oder für uns arbeiten. Ihre Entscheidung.«
Vanuzzi fixierte den anderen.
»Wir zahlen allerdings besser als die hier.«
Sélestat hatte das starke französische Kraut hastig aufgeraucht und schnipste den Zigarettenstummel in ein Waschbecken.
»Natürlich müssen Sie sich erst einmal bei Ihrem Case Officer rückversichern, ob alles seine Richtigkeit hat. Ich bitte sogar darum, Vanuzzi.«
»Wie kann ich Sie kontaktieren?«
»Gar nicht. Wir treffen uns übermorgen, wenn Sie wieder bei Kräften sind. Dreiundzwanzig Uhr. Merken Sie sich den Ort, der in diesem Brief steht. Da finden Sie auch die Summe, die wir für Sie springen lassen. Ich bin überzeugt, dass dies Ihre Entscheidung beschleunigt.«
Er drückte Vanuzzi einen Umschlag in die Hand und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Übrigens: Sie sollten mehr auf Ihre Deckung achten. Ist Ihre große Schwäche, Vanuzzi!«
Er sah, wie der andere aus der Tür verschwand. Dann fanden seine Augen wieder das Plakat aus dem letzten Jahr. The Beatles. Was für ein dämlicher Name! Damit würden es die Jungs nie zu etwas bringen.
Der bestirnte Himmel über ihm und das Gaspedal unter ihm. Sein Taunus 15M hatte zigtausend Kilometer auf dem Tacho und so einiges mitgemacht, dennoch lief der Motor, ohne zu mucken. Als er ihn gekauft hatte, hatte Ödön ihn ausgelacht, ob’s nicht vielleicht etwas sportlicher gehe. Vanuzzi hatte abgewinkt. Einen Sportwagen musste man sich leisten können, außerdem wäre der viel zu auffällig gewesen. Vanuzzi wollte ein amerikanisches Fabrikat fahren, eines, an dessen Ersatzteile er mühelos herankam und das zugleich verlässlich war. Er hatte den Wagen selbst frisiert, sodass er, wenn es hart auf hart kam, auch mal hundertsechzig Sachen machte. Damit gab es nur wenige Autos in diesem Land, die ihn abhängen konnten.
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