Vanuzzi war wieder einmal auf der Autobahn von Köln nach Bonn unterwegs. »Diplomatenrennbahn« nannte man sie ironisch – seit Gründung der Bundesrepublik tobten sich auf ihr vorwiegend die nationale und internationale Politik und das Diplomatische Corps aus. Vielmehr: deren Chauffeure. Früher hatte Vanuzzi diese Strecke drei- bis viermal die Woche zurückgelegt, um seinen Case Officer in Bonn zu treffen. Mittlerweile gab es kaum mehr eine Notwendigkeit dafür.
Er war jetzt im zehnten Jahr »unabhängiger Informationsbeschaffer«, wie er sich selbst nannte. Hatte all diese Jahre dem britischen Auslandsnachrichtendienst MI6 zugearbeitet, aber keinen Volltreffer mehr gelandet, seit er 1956 wichtige Dokumente aus dem kommunistischen Ungarn geschmuggelt hatte. Alle interessanten – und daher lukrativen – Geschichten hatte die CIA abgegriffen. Es war ein Teufelskreis: Je weniger Erfolg, desto weniger verwertbare neue Infos, je weniger Infos, desto weniger Chancen auf Erfolg. Das MI6 ließ ihn am ausgestreckten Arm verhungern, und das war nicht bildlich gesprochen.
Seit drei Jahren hielt er sich vor allem mit Boxen über Wasser. Es waren Showkämpfe, weit davon entfernt, professionell organisiert zu sein, sonst hätte er auch nicht mithalten können. Das Gros seiner Gegner waren Männer, die ihren Zenit vor mehr als zehn Jahren überschritten hatten und nichts anderes konnten oder wollten als boxen. Doch keiner von ihnen war vierundfünfzig Jahre alt wie Vanuzzi. Noch konnte er durch Erfahrung und Schlaghärte ausgleichen, was ihm an Schnelligkeit, Reflexen und Kondition allmählich zu fehlen begann. Aber das Training musste immer umfangreicher werden, um den Status quo seiner Möglichkeiten zu erhalten, und die Blessuren brauchten ewig, bis sie ausheilten. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, gab er sich keine zwei Jahre, bis sie ihn ausrangierten. Die Kämpfe mussten, wegen der Wetten, mit denen die Veranstalter gutes Geld verdienten, einigermaßen realistisch wirken; doch die Zocker, Luden hin oder her, würden riechen, dass etwas faul sein musste, wenn ein Mann wie er einen fünfzehn Jahre Jüngeren nach fünf Runden ausknockte.
Hin und wieder war er als Trainer eingesprungen, um ein paar Mark dazuzuverdienen. Aber seit er massive Schulden bei einem der Veranstalter hatte, reichte auch das nicht mehr. Und Schulden hatte er, weil … normalerweise hatte er kein Problem damit, wenn man ihm sagte, dass der Kampf nach fünf oder sechs Runden für ihn zu Ende sei. Und meist hatte er auch keines damit, gegen einen Deutschen zu verlieren – er schluckte seinen Stolz runter. Aber an diesem Tag war sein Gegner ein ehemaliger SS-Mann gewesen. Er hatte ihn an der ausgebrannten Blutgruppentätowierung am Oberarm erkannt. Etwas in ihm war an diesem Tag ausgerastet. Der Deutsche war ein Bulle, hatte gut und gern zehn Kilo mehr auf den Rippen. Fett, nicht Muskeln. Dadurch war er langsam. Zugleich überheblich und siegessicher, weil auch er wusste, wie der Kampf ausgehen würde. Vanuzzi hatte sich fünf Runden lang ans Drehbuch gehalten. Als er auch in der sechsten Runde keine Anstalten machte, in die behäbigen Schwinger seines Gegners zu rennen, zischte ihm der Deutsche ein ums andere Mal zwischen den lädierten Zähnen etwas zu. Nicht, dass er ihn wirklich verstanden hätte, doch glaubte er das Wort »Drecksjude« herausgehört zu haben. In Runde sieben war die SS sichtlich am Ende, schwitzte, dass bei jedem Schlag die Tropfen spritzten, keuchte pfeifend und hielt mühsam die Fäuste zur Deckung. Vanuzzi machte Schluss. Er ließ seinen Gegner in eine Gerade laufen, von der er sich nicht mehr erholte. Nach dem Kampf hatten sie ihn zu acht am Hinterausgang abgepasst und zusammengeschlagen. Sie hatten ihm nur deshalb nicht alle Knochen gebrochen, weil sie ihn für weitere Kämpfe brauchten und er ihnen versichert hatte, dass er ihre verlorenen Wetteinsätze einschließlich des verlorenen Gewinns mit Zins und Zinseszins zurückzahlen würde.
Doch wie …?!
Vanuzzi brauchte Geld. Viel Geld. Und er brauchte es dringend. Die Summe, die Sélestat in den »Brief« geschrieben hatte, war so groß, dass er auf einen Schlag nicht nur seine Schulden zurückzahlen konnte, er würde damit auch sich und Ödön die nächsten zwei Jahre durchbringen. Da Ödön gerade mal wieder seinen Job verloren hatte, war das auch bitter nötig.
Sie waren noch letzte Nacht aus Hamburg ins Ruhrgebiet zurückgekehrt.
Sélestat hatte Ödön vom ersten Augenblick an missfallen. Kaum war der Franzose gegangen, war Ödön wieder zurückgekehrt und hatte mit zusammengebissenen Zähnen gefragt: »Was war ’n das für ein Typ?«
»Einer, der mir Tipps für meine Defense geben wollte.«
Wie immer, wenn er auswärts kämpfte und danach längere Rückfahrten vor sich hatte, hatte ihn Ödön chauffiert, und wie immer hatte Vanuzzi die Fahrt komplett verschlafen, auch wenn sein Tagesrhythmus normalerweise ein anderer war und er nachts erst auf Touren kam. Die Kämpfe machten ihn so fertig, dass er, sobald das Adrenalin abgeflaut war, schlief wie ein Stein. Gegen Mittag hatte er Monty ein Telegramm geschickt, das dieser umgehend beantwortet und Vanuzzi um zwanzig Uhr in den Kurpark von Bad Godesberg bestellt hatte. Ein viel besuchter, dazu warmer Ort, Restaurant oder Kneipe, wie es bei früheren Treffen üblich gewesen war, wäre Vanuzzi allerdings lieber gewesen.
Er stellte sein Auto in der Nähe des Kurparks ab. Vanuzzi war mehr als eine halbe Stunde zu früh dran. Monty war Pünktlichkeitsfanatiker, hasste es, wenn seine Leute mehr als fünf Minuten zu spät zu Treffen kamen. Aber er hasste es noch mehr, wenn sie zu früh dran waren. Monty musste die Situation kontrollieren, musste derjenige sein, der bereits vor Ort war.
Vanuzzi drehte den Innenspiegel seines Wagens zu sich her und sah sich ins Gesicht. Er hatte Cuts an Unterlippe und Augenbraue, ein Auge war ein wenig geschwollen, aber nicht dramatisch. Nach anderen Kämpfen hatte er schlimmer ausgesehen.
Er wirkte noch immer deutlich jünger als seine Jahre. Das dunkelblonde, kurze Haar hatte erst wenige Silbersträhnen. Wässrig-graue Augen, die tief im Kopf steckten, und ein schmaler Mund mit je einer perfekt symmetrisch stehenden Falte rechts und links verliehen ihm mehr das Aussehen eines norwegischen Wintersportlers als das des italienischstämmigen Chicagoer Straßenkinds, das die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre zufällig nach Deutschland gespült hatten.
Ein schönes Curriculum Vitae: ein Chicago-Mobster, der zu Prohibitionszeiten kanadischen Alkohol schmuggelt. Er meldet sich zur US Army, als die dringend Leute braucht und deshalb keine strenge Musterung vornimmt. Heuert beim US-Heeresnachrichtendienst CIC an, übernimmt heikle Missionen in der Kriegs- und Nachkriegszeit in Italien und Deutschland. Lässt sich vom Mossad als Doppelagent rekrutieren und wechselt nach einem Alleingang nach Israel. Er legt sich in Tel Aviv einmal zu oft mit seinen Vorgesetzten an und steht plötzlich allein da. Seitdem arbeitete er auf eigene Faust.
Vanuzzi warf einen letzten Blick in den Innenspiegel, drehte ihn wieder zurück.
Was hielt ihn eigentlich so jung? Seine Jobs konnten es nicht sein.
Vielleicht der Umstand, dass er sich so ruhelos und unstet fühlte wie mit Mitte Zwanzig? Oder dass etwas in ihm dieses Leben, wie es seit ein paar Jahren lief, gründlich satt hatte und sich nach etwas ganz anderem sehnte? Sich sehnte nach etwas, das wirklich zählte … aber Vanuzzi hatte keinen Schimmer, was wirklich zählte und wie er der Antwort auf diese Frage überhaupt näherkommen sollte.
Er verwarf den Gedanken, schnappte sich die dunkelbraune Fliegerjacke aus Leder, die er seit Jahren trug, sobald die Temperaturen unter zehn Grad fielen, verschloss das Auto und ging Richtung Kurpark. Es war dunkel, Lampen erhellten nur notdürftig die Wege. Er sah den Lehne an Lehne stehenden Parkbänken entgegen und entdeckte Monty, Zeitung lesend, auf einer von ihnen.
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