»I guess I am dying.«
Seine Augen waren voller Tränen. Das dösende Flugzeug wurde abrupt geweckt. Gleich zwei Ärzte meldeten sich. Sie baten Tina, ihren Sitz freizumachen. Bald waren drei Sitzreihen vor und hinter dem Schotten leer und die aufgescheuchten Passagiere fanden sich im hinteren Teil des Flugzeugs zusammen. Es vergingen zwanzig Minuten. Eine Stewardess, flach wie ein Brett, näherte sich Tina.
»Wie standen Sie zu dem Mann neben Ihnen?«
Stewardessen, Polizisten und Notärzten sollte man keine Grammatik beibringen.
»Bleiben Sie in Istanbul oder haben Sie einen Anschluss?«, fragte sie der Arzt der Flughafen-Notfallambulanz.
»Ich bleibe hier, für zwei Tage.«
»Sie hatten eine Panikattacke. Es wäre besser, wenn Sie nachts nicht alleine sind.«
»Mein Sitznachbar ist gestorben, ein Schotte, im Flugzeug.«
»Ich weiß Bescheid. Ich will mir nicht ausmalen, wie sich das anfühlen muss.«
»Sheraton.«
»Was meinen Sie?«
»Bringen Sie mich im Sheraton unter. Ich muss morgen meinen Gesprächspartner treffen.«
»Sind Sie zur Recherche hier?«
»Ich bin Journalistin.«
Sie zählte die blassen Fliesen an der Decke der Ambulanz.
Tinas zierliche Waden stecken in Skechers-Sportschuhen. Unter dem Saum ihrer verwaschenen Jeans stechen strahlend gelbe Socken hervor. Das rotgeblümte Hemd unter dem blauen Cordblazer verstärkt noch den Kontrast zu ihrer ohnehin blassen Gesichtsfarbe. Die nahezu perfekte Form ihrer dichtbewimperten, honigfarbenen Augen ist selbst hinter der Brille, die wie angegossen auf ihrer Nase sitzt, sofort zu erkennen. Ihre Stachelfrisur, die an einen Igel erinnert, verleiht ihr einen Hauch verwirrter Hilflosigkeit, aber nur, bis sie aufsteht. Ihr außerordentlich hochgewachsener Körper trägt Kleidung und Tasche mit beneidenswerter Eleganz, und selbst im Schockzustand verliert sie nichts von ihrem Zauber. Sie weckt ihre Chefredakteurin. Sie waren zwar wie Katz und Maus, doch niemand steht Tina näher. Sie kann Ana Rogawa von jedem Winkel der Erde anrufen. Zunächst informiert sie sie darüber, dass sie heil angekommen ist, und plaudert ein wenig. Dann kommen sie zur Sache.
»Tina, wer ist gestorben?«
»Der schottische Windkraftingenieur.«
»Was für ein Schotte? Bist du nicht in Amman?«
»Wir waren schon in der Luft. Er saß neben mir. Er hat gesagt, dass er Schotte ist. Dann wurde ihm schlecht und innerhalb von Minuten war er tot.«
»Oh nein. War er alt?«
»Um die fünfzig, oder jünger.«
»Wie geht es dir? Soll ich Petra anrufen? Sie kann dich abholen und du kannst bei ihr bleiben.«
Petra war Journalistin des türkischen Redaktionsbüros.
»Nein, schon gut. Ich weiß nicht einmal, wieso ich dich angerufen habe. Ich habe nicht nachgedacht.«
»Ich schlafe sowieso nicht. Ich sitze am Projekt der Amerikaner und bin online. Wenn du nicht schlafen kannst, melde dich, okay?«
Sechzig minus fünfunddreißig ist fünfundzwanzig. Weniger Jahre, als sie gelebt hat. Im Sheraton bekommt sie ein Upgrade – eine Luxussuite im 26. Stock statt des gebuchten Standardzimmers. Sie ahnt, dass Ana Rogawa Petra angerufen haben muss; Petra wiederum die Hoteladministration. Das atemberaubende Istanbul liegt ausgebreitet vor ihr. Was wohl als Sterbeort des Schotten eingetragen wird, denkt sie.
»Zimmerservice!«
Was soll’s, sie bekommt sowieso kein Auge zu. Ein junger Mann tritt unter Entschuldigungsbekundungen ein und bittet, einen Blick unter das Bett werfen zu dürfen. Die Konferenzteilnehmerin, die das Zimmer vor einigen Stunden geräumt hat, hat eine gestrickte Tasche voller Dokumente liegenlassen. Tina hat noch nicht einmal ihren Koffer geöffnet. Nach dem Bett wendet er sich dem Schrank zu, danach dem Bad, beides ohne Erfolg. Der Mann entschuldigt sich erneut vielmals und öffnet einem jüngeren Herrn die Tür, der einen Obstkorb hereinträgt – »für die Unannehmlichkeiten«. Anschließend verabschieden sich beide und gehen rückwärtstrippelnd aus dem Zimmer.
Tina wirft die Kissen auf den Boden und legt ihr Gesicht vorsichtig auf den wohlriechenden Bettbezug. Er ist so zart wie ein Kätzchen, das zum Streicheln einlädt. Sie schiebt ihre Hand ein wenig nach oben und ihre Finger liebkosen den weichgespülten Stoff. Sie greift zum Kopfende, wo der Bezug stramm unter die Matratze gefaltet ist. Dann fährt sie die Matratzenkante entlang und schreit vor Schmerz auf. Ihr Finger brennt und sieht aus, als sei er mit einer Rasierklinge in Berührung gekommen. Sie steht auf und macht alle Lichter im Raum an. Sie ringt mit dem Bezug. Nach dem dritten Anlauf hat sie den blutbefleckten Stoff von der Matratze gezogen und ein Meer von Dokumenten flattert auf den Filzboden.
Sensibilisierung für sexuelle Gewalt
Komparative Analyse von 9 Fällen
Materialien für die regionale Konferenz. Anhang 3
Keti Ruadse
Psychotherapeutin
Psychosozialer Krisendienst
Tel.: 995555 -- -- --
E-Mail: ruaqet@psychoservices.com
Kollektive sexualisierte Gewalt – Sexuelle Sklaverei
Natia, 38. Diagnose: Depressive Störung. Ein Suizidversuch, mehrere Versuche von Selbstverletzung. Wurde im Alter von 14 Jahren von drei Klassenkameraden im eigenen Haus vergewaltigt, einer davon war ihr Freund. Sie wurde eingeschüchtert, niemandem davon zu erzählen. Ihr wurde mit Rufmord in Nachbarschaft und Schule gedroht, was ihr Leben aller Voraussicht nach unerträglich gemacht hätte. Die Patientin betont, sie wollte unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Eltern davon erfuhren .
Einige Tage nach der ersten Vergewaltigung wurde Natia erneut Opfer einer Vergewaltigung, erneut im eigenen Haus, diesmal durch fünf Klassenkameraden. Nach der zweiten Vergewaltigung erklärte der Haupttäter Natia, dass sie von nun an sein Besitz sei. Aus diesem Grund müsse sie jeden Anruf entgegennehmen und Zeit sowie Örtlichkeit stellen, um ihm und seinen Freunden zur Verfügung zu stehen. Ausreden, ihre Eltern seien zu Hause, sie sei krank usw., sollten ihr gar nicht erst in den Sinn kommen, da sich damit ihre Lage nur drastisch verschlechtern würde .
Im Laufe der folgenden sechs Jahre vergingen sich, in unregelmäßigen Abständen, hauptsächlich fünf Personen an Natia. Es gab jedoch auch Fälle, in denen sie der Haupttäter seinen Freunden oder Gläubigern anbot .
Zwei Befreiungsversuche der Patientin endeten mit physischer Gewalt .
Im Laufe von sechs Jahren fanden mehrere individuelle sowie Gruppenvergewaltigungen statt, zudem Fälle von Sadismus und sexueller Erniedrigung .
Es kamen vier Schwangerschaften zustande, die erste im Alter von 15 Jahren. Drei Schwangerschaftsabbrüche, eine Fehlgeburt .
Opfer sowie Täter waren im 3. Studienjahr, als ein Gruppenmitglied festgenommen wurde. Ein Zweiter setzte sein Studium im Ausland fort. Die anderen verloren vermutlich das Interesse an Natia und so konnte sie sich, im Alter von zwanzig Jahren, aus der sexuellen Sklaverei befreien .
Tina findet die oberen Seitenstraßen des Rustaweli-Boulevards gesperrt vor. Ein baufälliges Haus im Sololaki-Viertel war eingestürzt und Regierungsvertreter, NGOs und Journalisten haben ihr Zelt auf der Leonidsestraße aufgeschlagen. Tina lässt ihr Auto am Ende der Arsenastraße stehen und geht zu Fuß Richtung »Las Magas« weiter. Der März spielt dieses Jahr so verrückt wie noch nie; schon seit zwei Wochen herrschen unverändert 20 Grad. Die Obstverkäufer auf dem Bürgersteig plaudern mit den Parklotsen. Eine Gruppe Touristen mit ungewaschenen Haaren hat sich vor ihrem Hostel auf ihren Rucksäcken niedergelassen und genießt mit offenen Mündern die Sonne. Im Konservatorium, das diesen Winter in die Tschawtschawadsestraße verlegt worden war, sind so früh am Morgen alle Fenster sperrangelweit offen. Drinnen jault ein Mann aus voller Kehle, begleitet von einem Klavier. Tenor, denkt Tina. Wie man in diesem Haus wohl Kinder zum Schlafen bringt?
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