Ein Plädoyer gegen den Lärm der Welt
FRANZ WELSER-MÖST
notiert von
Axel Brüggemann
VORWORT und DANK
Prélude
I.DIE LEHRE DER MUSIK
Von der Selbstverständlichkeit des Klanges
In die Musik geboren
Das Lineal von Schwester Gerburga
Jedes Kind in Cleveland: der 100-Jahresplan
Der leidenschaftliche Lehrer: Balduin Sulzer
Muss Musik denn wirklich sein?
Die erste Stille
Musik gegen eine lärmende Welt
ERSTE WANDERUNG – Meditative Stille
II.DIE ORTE DER MUSIK
Von der Organisation des Klanges
Meine Lehrjahre in London
Ganz große Oper in Zürich
Gedanken zum Regietheater
Der Wiener Wahn (frei nach Richard Wagner)
Orchester als Spiegel der Welt
ZWEITE WANDERUNG – Natur der Stille
III.MÄRKTE DER MUSIK
Vom Konsum des Klanges
Lob der Langeweile
Ruhe: Aufnahme!
Gugelhupf und Dreivierteltakt
Von Kritik und Leidenschaft
DRITTE WANDERUNG – Geist der Stille
IV.KÜNSTLER UND DIE MUSIK
Vom Produzieren des Klanges
Lernen von Legenden
Individuum und Macht
Aus meiner Werkstatt I: Beethovens Neunte
Aus meiner Werkstatt II: Der Rosenkavalier
Den eigenen Weg gehen
VIERTE WANDERUNG – Ewigkeit der Stille
Nachwort
Eigenartig!
Als der Brandstätter Verlag im August 2019 an mich mit der Frage herantrat, ob ich ein Buch schreiben wolle, war ich mir nicht sicher, ob ich das machen solle. Dann fanden wir in Axel Brüggemann den richtigen Partner, der bereit war, meine Gedanken aufzuzeichnen. Im Dezember darauf trafen wir uns regelmäßig, und in diesen Treffen kristallisierte sich schnell ein Arbeitstitel für das Buch heraus: Aus der Stille . Und dann kam Corona mit dem weltweiten Stillstand. Eigenartig – ein Zufall?
Ich schreibe diese Worte während der ersten Tage des kompletten Shutdowns in Österreich. Eine Art unfreiwilliger und erzwungener Rückzug aus der Welt. Eine fürchterliche Art, zur Ruhe gezwungen zu werden. Keiner kann derzeit absehen, wie die Situation sich entwickeln wird. Aber ich hoffe sehr, dass am Ende dieser globalen Krise, die fraglos viele Opfer fordern wird, auch ein Aufatmen stattfindet. Und dass nach diesem Aufatmen ein Bewusstsein für die Stille bestehen bleibt und der Verzicht als Möglichkeit begriffen wird, das Wesentliche zu hinterfragen und vielleicht sogar neu zu ordnen – individuell und als Gesellschaft.
Ich war mir zuerst nicht über die Ziele dieses Buches sicher, aber während der Arbeit daran wurde mir immer mehr bewusst, dass es auch als Wegweiser für die nächsten Generationen von Musikern gemeint ist. Um ihnen Mut zu machen, sich von ersten Erfolgen nicht blenden und schon gar nicht korrumpieren zu lassen. Ihnen und allen Lesern möchte ich mitgeben, dass auch ein nach außen hin erfolgreiches Leben aus vielen Höhen und Tiefen besteht, aus Kurven, bei denen man nicht weiß, was hinter der Biegung auf einen wartet. Stromlinienförmige Karrieren waren mir schon immer suspekt.
So ist auch mein Unfall 1978 ein unfreiwilliges Symbol dafür: Der Wagen kam vom Weg ab und es bedurfte nach diesem dramatischen Ereignis einer großen Kraftanstrengung, um auf den Weg ins Leben zurückzufinden. Ich will Mut machen, an die eigenen Talente zu glauben, für seine Überzeugungen einzustehen, die man durch Suchen und Schürfen gewonnen hat, auch wenn es nicht dem Zeitgeist entspricht – sowie nicht auf jeden Zug aufzuspringen, der in unserer heutigen Kultur der permanenten Aufgeregtheit bereitsteht. Viele im Moment schmerzhafte Erlebnisse stellen sich im Nachhinein als wichtige und richtige Weichenstellungen dar. Dankbar bin ich für die großen Momente und wunderbaren Begegnungen, wie sie ein Künstlerleben mit sich bringen.
Dieses Buch ist auch ein Aufruf an uns Kulturschaffende, unseren Betrieb nicht als selbstverständlich hinzunehmen, der unsere Eitelkeiten und Konten zu bedienen hat, sondern kreativ in die Zukunft zu investieren.
Das Buch ist eine teilweise humorvolle, aber auch zutiefst ernst gemeinte Reise durch meine 60 Jahre, in denen ich gelernt habe, vieles zu hinterfragen und alles, aber auch wirklich alles zu schätzen, was mir widerfährt. Und zu lernen, lernen, lernen.
Mein Dank gilt dem Brandstätter Verlag, der die Idee hatte und mich aufmerksam durch die Zeit der Entstehung dieses Buches begleitet hat.
Vor allem aber Axel Brüggemann, der in sehr intensiven Gesprächen vieles aus meinem Innersten herausgeholt hat, von dem ich nicht vorhatte, es mit der Öffentlichkeit zu teilen, und der als redegewandter und brillanter Überzeugungstäter es schaffte, mich an den Punkt zu bringen, es doch zu tun.
Besonderer Dank gilt auch Annette Frank, die mich intensiv, fachkundig, geduldig, aber auch hartnäckig durch die lange Zeit der Korrekturen begleitet hat.
Prélude
Diese existenzielle Stille
Ich kann bis heute nicht genau sagen, ob mir bewusst war, dass die Reifen unseres Wagens den Griff auf dem gefrorenen Asphalt auf der Brücke nach Losenstein verloren hatten. Wir sind hilflos über eine Böschung geschlittert und kamen einige Sekunden später nach einigen Überschlägen zum Stillstand. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich von der Rückbank aus beobachten konnte, wie der Fahrer versuchte, das Rutschen durch das energische Betätigen der Bremsen auszubügeln, wodurch er unsere Lage nur noch verschlimmerte. Woran ich mich allerdings erinnere, ist, dass ich diese Sekunden als Ewigkeit wahrnahm.
Die Zeit schien aufgelöst, ebenso wie die Schwerkraft. In diesem Augenblick verlor jedes Koordinatensystem, das der Existenz eines Menschen für gewöhnlich Halt gibt, seine Bedeutung. In Filmen wird das subjektive Gefühl bei einem solchen Unfall oft dargestellt, indem der Regisseur das Geschehen in Zeitlupe abbremst und die gleiche schlingernde Bewegung des Kraftfahrzeuges aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder hintereinander abspielt.
Der Film, der sich in diesem Augenblick bei mir abspielte, war eher ein Hörspiel. Oder besser gesagt: ein Stumm-Spiel. Ich erinnere mich nicht, ob in unserem Auto noch Worte gefallen sind, ob jemand „Oh Gott!“ geflüstert oder „Pass auf!“ geschrien hat. Das Gleiten des Autos vor dem Crash nahm ich bewusst wahr, aber alles um mich herum erschien plötzlich irreal. An was ich mich erinnere, ist die unglaubliche Stille, die mich umhüllte.
Eine Stille, die nichts mit jener Ruhe zu tun hatte, die ich von meinen zahlreichen Wanderungen kenne, wenn ich bei Sonnenaufgang in den Bergen unterwegs bin und der voll orchestrierten Natur lausche: Blätter, die sich im Wind wiegen, Tiere, die aus der Dunkelheit erwachen, der Sturm, der auf den Gipfeln bläst, oder – nach innen gerichtet – der Rhythmus des eigenen Herzschlages. Die Stille, die ich in diesem Moment auf der Rückbank unseres Autos wahrnahm, klang anders. Eine Stille, wie ich sie zuvor höchstens in der Musik erlebt hatte: ein Aussetzen von Zeit und Raum. Im Unterschied zur Musik war ich allerdings nicht in der Lage, diese Stille zu gestalten, ihren Aufbau und ihre Dauer zu bestimmen – ich war ihr vollkommen ausgeliefert, unfähig, mich zu bewegen, geschweige denn Einfluss auf das zu nehmen, was in den nächsten Sekunden passieren sollte. Diese Stille schien alle mir bekannten Regeln unserer Welt zu ignorieren. Eine Sekunden-Stille oder eine ewige Stille – ich kann es nicht sagen, da selbst die Zeit ausgehebelt war, sich gleichsam ausdehnte in die Unendlichkeit. Die Stille, die ich in unserem Auto hörte, während es unkontrolliert über den Asphalt rutschte, war eine Stille, die so still war wie nichts, was ich bis dahin nicht gehört hatte.
Читать дальше