Franz Welser-Möst - Als ich die Stille fand

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Die Stille als Schlüssel unserer Welt: Ein leidenschaftliches Plädoyer des weltbekannten Dirigenten für genaueres Zuhören, Konzentration und Ruhe in einer sich immer schneller drehenden Zeit.
Bei einem schweren Autounfall erlebte Franz Welser-Möst als Jugendlicher den Klang der Ewigkeit: ein Zustand, den er seither in der Musik sucht. In den zum Teil sehr persönlich gehaltenen Reflexionen anlässlich seines 60. Geburtstags nimmt uns Franz Welser-Möst mit auf eine Reise durch sein Leben in der Musik, angefangen von seiner Jugend in Oberösterreich über seine Begegnungen mit Herbert von Karajan bis hin zu seinen Engagements in London, Zürich, an der Wiener Staatsoper und beim weltberühmten Cleveland Orchestra. Machtspiele hinter den Kulissen und Gedanken über den modernen Markt der Musik bleiben nicht ausgespart. Vor allem aber erzählt der Dirigent von der Bedeutung des Sich-immer-wieder-Neuerfindens und künstlerischer Inspiration, von Musik als Impuls für Bildung und soziale Fragen und als Hilfe, unsere chaotische Welt zu ordnen.
Franz Welser-Mösts Dirigentenleben ist eine Inspiration: Horchen wir besser auf unsere Welt, um sie zu verstehen und mit Leidenschaft zu beleben.

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Als ich die Stille fand Ein Plädoyer gegen den Lärm der Welt FRANZ - фото 1

Als ich die Stille fand

Ein Plädoyer gegen den Lärm der Welt

FRANZ WELSER-MÖST

notiert von

Axel Brüggemann

VORWORT und DANK Prélude IDIE LEHRE DER MUSIK Von der - фото 2

VORWORT und DANK

Prélude

I.DIE LEHRE DER MUSIK

Von der Selbstverständlichkeit des Klanges

In die Musik geboren

Das Lineal von Schwester Gerburga

Jedes Kind in Cleveland: der 100-Jahresplan

Der leidenschaftliche Lehrer: Balduin Sulzer

Muss Musik denn wirklich sein?

Die erste Stille

Musik gegen eine lärmende Welt

ERSTE WANDERUNG – Meditative Stille

II.DIE ORTE DER MUSIK

Von der Organisation des Klanges

Meine Lehrjahre in London

Ganz große Oper in Zürich

Gedanken zum Regietheater

Der Wiener Wahn (frei nach Richard Wagner)

Orchester als Spiegel der Welt

ZWEITE WANDERUNG – Natur der Stille

III.MÄRKTE DER MUSIK

Vom Konsum des Klanges

Lob der Langeweile

Ruhe: Aufnahme!

Gugelhupf und Dreivierteltakt

Von Kritik und Leidenschaft

DRITTE WANDERUNG – Geist der Stille

IV.KÜNSTLER UND DIE MUSIK

Vom Produzieren des Klanges

Lernen von Legenden

Individuum und Macht

Aus meiner Werkstatt I: Beethovens Neunte

Aus meiner Werkstatt II: Der Rosenkavalier

Den eigenen Weg gehen

VIERTE WANDERUNG – Ewigkeit der Stille

Nachwort

VORWORT und DANK

Eigenartig!

Als der Brandstätter Verlag im August 2019 an mich mit der Frage herantrat, ob ich ein Buch schreiben wolle, war ich mir nicht sicher, ob ich das machen solle. Dann fanden wir in Axel Brüggemann den richtigen Partner, der bereit war, meine Gedanken aufzuzeichnen. Im Dezember darauf trafen wir uns regelmäßig, und in diesen Treffen kristallisierte sich schnell ein Arbeitstitel für das Buch heraus: Aus der Stille . Und dann kam Corona mit dem weltweiten Stillstand. Eigenartig – ein Zufall?

Ich schreibe diese Worte während der ersten Tage des kompletten Shutdowns in Österreich. Eine Art unfreiwilliger und erzwungener Rückzug aus der Welt. Eine fürchterliche Art, zur Ruhe gezwungen zu werden. Keiner kann derzeit absehen, wie die Situation sich entwickeln wird. Aber ich hoffe sehr, dass am Ende dieser globalen Krise, die fraglos viele Opfer fordern wird, auch ein Aufatmen stattfindet. Und dass nach diesem Aufatmen ein Bewusstsein für die Stille bestehen bleibt und der Verzicht als Möglichkeit begriffen wird, das Wesentliche zu hinterfragen und vielleicht sogar neu zu ordnen – individuell und als Gesellschaft.

Ich war mir zuerst nicht über die Ziele dieses Buches sicher, aber während der Arbeit daran wurde mir immer mehr bewusst, dass es auch als Wegweiser für die nächsten Generationen von Musikern gemeint ist. Um ihnen Mut zu machen, sich von ersten Erfolgen nicht blenden und schon gar nicht korrumpieren zu lassen. Ihnen und allen Lesern möchte ich mitgeben, dass auch ein nach außen hin erfolgreiches Leben aus vielen Höhen und Tiefen besteht, aus Kurven, bei denen man nicht weiß, was hinter der Biegung auf einen wartet. Stromlinienförmige Karrieren waren mir schon immer suspekt.

So ist auch mein Unfall 1978 ein unfreiwilliges Symbol dafür: Der Wagen kam vom Weg ab und es bedurfte nach diesem dramatischen Ereignis einer großen Kraftanstrengung, um auf den Weg ins Leben zurückzufinden. Ich will Mut machen, an die eigenen Talente zu glauben, für seine Überzeugungen einzustehen, die man durch Suchen und Schürfen gewonnen hat, auch wenn es nicht dem Zeitgeist entspricht – sowie nicht auf jeden Zug aufzuspringen, der in unserer heutigen Kultur der permanenten Aufgeregtheit bereitsteht. Viele im Moment schmerzhafte Erlebnisse stellen sich im Nachhinein als wichtige und richtige Weichenstellungen dar. Dankbar bin ich für die großen Momente und wunderbaren Begegnungen, wie sie ein Künstlerleben mit sich bringen.

Dieses Buch ist auch ein Aufruf an uns Kulturschaffende, unseren Betrieb nicht als selbstverständlich hinzunehmen, der unsere Eitelkeiten und Konten zu bedienen hat, sondern kreativ in die Zukunft zu investieren.

Das Buch ist eine teilweise humorvolle, aber auch zutiefst ernst gemeinte Reise durch meine 60 Jahre, in denen ich gelernt habe, vieles zu hinterfragen und alles, aber auch wirklich alles zu schätzen, was mir widerfährt. Und zu lernen, lernen, lernen.

Mein Dank gilt dem Brandstätter Verlag, der die Idee hatte und mich aufmerksam durch die Zeit der Entstehung dieses Buches begleitet hat.

Vor allem aber Axel Brüggemann, der in sehr intensiven Gesprächen vieles aus meinem Innersten herausgeholt hat, von dem ich nicht vorhatte, es mit der Öffentlichkeit zu teilen, und der als redegewandter und brillanter Überzeugungstäter es schaffte, mich an den Punkt zu bringen, es doch zu tun.

Besonderer Dank gilt auch Annette Frank, die mich intensiv, fachkundig, geduldig, aber auch hartnäckig durch die lange Zeit der Korrekturen begleitet hat.

Prélude Diese existenzielle Stille Ich kann bis heute nicht genau sagen - фото 3

Prélude

Diese existenzielle Stille

Ich kann bis heute nicht genau sagen, ob mir bewusst war, dass die Reifen unseres Wagens den Griff auf dem gefrorenen Asphalt auf der Brücke nach Losenstein verloren hatten. Wir sind hilflos über eine Böschung geschlittert und kamen einige Sekunden später nach einigen Überschlägen zum Stillstand. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich von der Rückbank aus beobachten konnte, wie der Fahrer versuchte, das Rutschen durch das energische Betätigen der Bremsen auszubügeln, wodurch er unsere Lage nur noch verschlimmerte. Woran ich mich allerdings erinnere, ist, dass ich diese Sekunden als Ewigkeit wahrnahm.

Die Zeit schien aufgelöst, ebenso wie die Schwerkraft. In diesem Augenblick verlor jedes Koordinatensystem, das der Existenz eines Menschen für gewöhnlich Halt gibt, seine Bedeutung. In Filmen wird das subjektive Gefühl bei einem solchen Unfall oft dargestellt, indem der Regisseur das Geschehen in Zeitlupe abbremst und die gleiche schlingernde Bewegung des Kraftfahrzeuges aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder hintereinander abspielt.

Der Film, der sich in diesem Augenblick bei mir abspielte, war eher ein Hörspiel. Oder besser gesagt: ein Stumm-Spiel. Ich erinnere mich nicht, ob in unserem Auto noch Worte gefallen sind, ob jemand „Oh Gott!“ geflüstert oder „Pass auf!“ geschrien hat. Das Gleiten des Autos vor dem Crash nahm ich bewusst wahr, aber alles um mich herum erschien plötzlich irreal. An was ich mich erinnere, ist die unglaubliche Stille, die mich umhüllte.

Eine Stille, die nichts mit jener Ruhe zu tun hatte, die ich von meinen zahlreichen Wanderungen kenne, wenn ich bei Sonnenaufgang in den Bergen unterwegs bin und der voll orchestrierten Natur lausche: Blätter, die sich im Wind wiegen, Tiere, die aus der Dunkelheit erwachen, der Sturm, der auf den Gipfeln bläst, oder – nach innen gerichtet – der Rhythmus des eigenen Herzschlages. Die Stille, die ich in diesem Moment auf der Rückbank unseres Autos wahrnahm, klang anders. Eine Stille, wie ich sie zuvor höchstens in der Musik erlebt hatte: ein Aussetzen von Zeit und Raum. Im Unterschied zur Musik war ich allerdings nicht in der Lage, diese Stille zu gestalten, ihren Aufbau und ihre Dauer zu bestimmen – ich war ihr vollkommen ausgeliefert, unfähig, mich zu bewegen, geschweige denn Einfluss auf das zu nehmen, was in den nächsten Sekunden passieren sollte. Diese Stille schien alle mir bekannten Regeln unserer Welt zu ignorieren. Eine Sekunden-Stille oder eine ewige Stille – ich kann es nicht sagen, da selbst die Zeit ausgehebelt war, sich gleichsam ausdehnte in die Unendlichkeit. Die Stille, die ich in unserem Auto hörte, während es unkontrolliert über den Asphalt rutschte, war eine Stille, die so still war wie nichts, was ich bis dahin nicht gehört hatte.

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