In der KIP wechseln sich im Therapieprozess Imaginationen mit Gesprächssequenzen von unterschiedlicher Dauer ab. Letztere dienen dem Bearbeiten und Verstehen des symbolischen Materials. Hervorgehoben werden die besondere Qualität der dialogisch begleiteten Imaginationen, die Mitwirkung des Therapeuten, die Motivvorgabe als wichtiges methodisches Instrument, die unterschiedlichen Behandlungsstrategien in Abhängigkeit von den Störungsmustern sowie die verschiedenen Wirkdimensionen. Die spezifische Wirksamkeit von Imaginationen im Rahmen eines psychodynamischen Gesamtkonzepts wird sowohl theoretisch erörtert als auch anhand spezifischer Untersuchungen belegt. Letztlich werden noch neurobiologische Aspekte erörtert, die das Potential der Methode bestätigen.
In einem aktuellen Forschungsprojekt wird der Therapieprozess im Detail untersucht, um herauszufinden, wann genau der Einsatz von katathymen Imaginationen sinnvoll und wirkungsvoll ist.
Literatur zur vertiefenden Lektüre
Dieter, W. (2015). Phantasie und Imagination. Ein Beitrag zu einer Theorie der Imagination. Imagination, 1, 50–72.
Stigler, M., Pokorny, D. (2000). Vom inneren Erleben über das Bild zum Wort. In Salvisberg, H., Stigler, M., Maxeiner, V. (Hrsg.). Erfahrung träumend zur Sprache bringen (S. 85–99). Bern: Hans Huber.
Ullmann, H., Friedrichs-Dachale, A., Bauer-Neustädter, W. & Linke-Stillger, U. (2017). Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP). Stuttgart: Kohlhammer.
Ullmann, H. & Wilke, E. (Hrsg.) (2012): Handbuch Katathym Imaginative Psychotherapie. Bern: Hans Huber.
• Welche Vorgehensweisen der KIP werden unterschieden?
• Wodurch wirkt die KIP?
• Wie wirkt sich die therapeutische Beziehung auf die Imagination aus?
3 Imagination, Kreativität und Unbewusstes
Bitte nehmen Sie eine entspannte Haltung ein und lassen Sie sich auf ein Phantasiespiel ein:
Stellen Sie sich bitte eine Blume vor. Lassen Sie sich dabei Zeit, bis Sie Ihre Blume deutlich vor Augen haben. Achten Sie auf die Umgebung, in der sich Ihre Blume befindet, in einer Vase oder im Freien. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Sinneswahrnehmungen: Wie ist die Atmosphäre, das Wetter, geht Wind, was können Sie hören, was können Sie riechen? Wie erleben Sie die Szene emotional?
Konzentrieren Sie sich nun auf Ihre Blume und betrachten Sie sie aufmerksam aus der Nähe. Wenn Sie mögen, berühren Sie sie vorsichtig an ihren verschiedenen Teilen. Welche Gefühle löst sie in Ihnen aus? Welche Assoziationen und Erinnerungen kommen Ihnen dazu?
Verspüren Sie den Impuls, etwas für Ihre Blume zu tun? Braucht sie Wasser oder Schutz? Geben Sie Ihrer Blume das, was sie braucht und was ihr guttut.
Gehen Sie dann in Ihrer Vorstellung etwas zurück, betrachten Sie Ihre Blume mit etwas Abstand und konzentrieren sich noch einmal auf das Gefühl, das Sie jetzt erleben. Dann verabschieden Sie sich von Ihrer Blume und kommen allmählich aus der Imagination wieder heraus.
Das war vermutlich eine innere Vorstellung oder eine Visualisierung, ein »Vor-Augen-Stellen«. Möglicherweise haben Sie aber auch gerade eine katathyme Imagination erlebt, das zentrale Element der KIP. Das spüren Sie, wenn eine andere Blume vor Ihrem inneren Auge auftaucht als die, an die Sie zunächst dachten, wenn Sie ein intensives und vielleicht überraschendes Gefühl bei ihrem Anblick erleben und wenn Ihr Bild Sie anrührt oder sogar tief bewegt.
Wenn Sie nicht so zufrieden waren mit dem Verlauf Ihrer Imagination, so könnte das daran gelegen haben, dass Sie alleine waren und nicht begleitet wurden. Katathyme Imaginationen sind, zumindest in der Anfangsphase einer KIP, auf eine Halt und Sicherheit gebende Beziehung angewiesen. KIP ist ein dialogisches Verfahren: In einer leichten Trance (vergleichbar derjenigen im Autogenen Training), induziert durch Entspannungsanleitungen, schlägt der Therapeut dem Patienten vor, er möge sich ein Motiv, etwa einen Baum, eine Wiese oder einen Berg vorstellen und berichten, was er erlebt und wie es ihm dabei geht. Der Therapeut begleitet den Tagtraum vor dem Hintergrund seiner Behandlungsstrategie, Gegenübertragungseinfälle und Assoziationen mit Hinweisen, Fragen, Kommentaren und Anregungen, die der Patient aufgreifen und in den imaginativen Prozess integrieren kann. So entsteht und entwickelt sich zwischen beiden Partnern ein dialogischer, intermediärer Raum, ein Spielraum, in dem die rationale Kontrolle gelockert ist und unbewusste Haltungen, Bedürfnisse, Konflikte und Ressourcen symbolisch zum Ausdruck kommen. Je nach klinischer Situation fokussiert der Therapeut dabei mehr auf Klärung und Einsicht, auf Ermutigung und Stabilisierung, auf Konfrontation und/oder auf die kreative Entwicklung neuer Lösungen und das Finden neuer Wege.
So zeigen sich etwa bei der Motivvorgabe Berg in einem extrem steilen und vereisten Viertausender die starken Leistungserwartungen, die ein Kind für sich selbst übernommen hat, in Verbindung mit der Tendenz, Herausforderungen zu vermeiden. Möglicherweise sind an dieser Konstellation die Erwartungen der zugleich verwöhnenden Eltern maßgeblich beteiligt. Der Therapeut kann nun dem Kind auf der Symbolebene helfen, den Berg in Etappen und langsam anzugehen, dabei für eine gute Ausrüstung, vielleicht auch eine wohlwollende Begleitung sorgen und zu Pausen anregen. So kann sich das Kind im Laufe der Behandlung schrittweise aus seinem Dilemma befreien. Prozessbegleitend wird der Therapeut mit den Eltern an ihren überzogenen Erwartungen arbeiten.
Damit sind die zentralen und miteinander eng verbundenen Elemente genannt, die den Kern der Katathym Imaginativen Psychotherapie ausmachen: Imagination, Kreativität, Spielraum, Dialog, Symbol und das Unbewusste.
Im Gegensatz zur Visualisierung, die auf die optische Dimension beschränkt ist, und gedanklichen Vorstellungen, die der bewussten Kontrolle unterliegen, stellen Imaginationen »die Umsetzung von Erlebnisinhalten in psychische Vorstellungen von sinnlicher und real anmutender Qualität« dar. »Diese Definition schließt körperliche Empfindungen, Gefühle, Beziehungen und ganze Szenen ein. Imaginationen können sich auf Erinnerungen aus der Vergangenheit beziehen, auf Projektionen in die Zukunft und auf die aktuelle Gegenwart […] Voll entwickelte Imaginationen (zeichnen sich) dadurch aus, dass sie a) mehrere Sinnesqualitäten umfassen, b) farbig, plastisch und dreidimensional erscheinen, c) sich in einer räumlichen und zeitlichen Dimension entfalten und d) als bedeutsame Realität erlebt werden, die e) als eine innere und vorgestellte gleichwohl grundsätzlich von der äußeren Realität abgrenzbar bleibt.« (Ullmann, 2012a, S. 23f., Hervorh. im Org.). Der Imaginierende ist dabei wach und zeitlich und räumlich voll orientiert. Die inneren Bilder und Bildfolgen haben einen eigengesetzlichen Ablauf und unterliegen der willentlichen Beeinflussung nur sehr bedingt. Leuner (1985, S. 42) konstatiert: »Der Tagtraum operiert … auf zwei Bewußtseinsebenen gleichzeitig… Der eine Teil des Ichs operiert auf der Ebene des Bildbewußtseins, der andere auf der des Realbewußtseins.«
Die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, ist grundsätzlich jedem Menschen zugänglich, wie unsere Nachtträume zeigen. Dabei gibt es Unterschiede zwischen Menschen mit ausgeprägter Einbildungskraft, hoher künstlerischer oder visueller Begabung und mehr sachlich und rational orientierten Personen. Entsprechend gibt es Zwischenstufen zwischen bloßen Vorstellungen und voll entwickelten Imaginationen. Kindern etwa ab dem Vorschulalter, die dem magischen Denken noch näherstehen, fällt es im Allgemeinen leicht, Imaginationen ganzheitlich zu erleben. In der Latenz schränkt die Neigung zum rationalen Denken und zur Gefühlsabwehr vor allem bei Jungen die Bereitschaft zum Imaginieren nicht selten ein. Bei Jugendlichen spielen die sich festigende Persönlichkeitsstruktur und die Übertragungsbeziehung eine Rolle, vor allem zu Beginn der Therapie. Misstrauische und auf ihre Autonomie bedachte Jugendliche tun sich ebenso schwer mit der Versenkung in ihr Innenleben im Beisein eines anderen wie zwanghafte oder schizoide junge Menschen. Wer sich aber auf die KIP einlässt, wird mit zunehmender Übung und Vertrautheit immer lebendigere und differenziertere Imaginationen mit zunehmender emotionaler Berührtheit erleben.
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