Und was hatte sich da manifestiert? Was glaube ich? Stellt es euch als einen Dorn vor, einen langen, dicken Dorn, so groß, dass er sich tief in die Flanke der Welt gebohrt hat. Der sich selbst in die Welt injiziert. Von diesem gigantischen Dorn geht ein suchtartiger, vielleicht automatisierter Impuls aus, zu assimilieren und zu imitieren. Assimilat und Assimilant interagieren durch einen Katalysator, ein Worte-Skript, das der Motor der Transformation ist. Vielleicht ist es ein Lebewesen, das in perfekter Symbiose mit seinen Wirtskreaturen lebt. Vielleicht ist es auch »nur« eine Maschine. Aber in beiden Fällen hat es Intelligenz, eine Intelligenz, die von unserer völlig verschieden ist. Sie schafft aus unserem Ökosystem eine neue Welt, deren Prozesse und Ziele uns völlig fremd sind – sie arbeitet auf einzigartige Weise mit Spiegelungen und indem sie auf vielfältigste Art im Verborgenen bleibt, und bei alldem gibt sie keinerlei Informationen über ihre Andersartigkeit preis, weil sie zu dem wird, worauf sie trifft.
Ich habe keine Ahnung, wie dieser Dorn hierher gekommen ist oder woher, ob nah oder fern, aber durch Glück oder eine Laune des Schicksals oder Absicht stieß er an einem Punkt auf den Leuchtturmwärter und integrierte ihn in seine Prozesse. Es ist nicht bekannt, wie das passierte. Es ist auch nicht bekannt, wie lang er noch bei sich war, während er neu erschaffen und einem Zweck zugeführt wurde. Niemand hat es beobachtet, es gibt keine Zeugen. Er war dreißig Jahre lang völlig alleine, bis eine Biologin einen Blick auf ihn erhaschte und sich fragte, zu was er wohl geworden ist. Katalysator. Funkenspender. Motor. Das Korn, aus dem die Perle wurde? Oder nichts als ein unfreiwilliger Mitreisender?
Und nachdem sein Schicksal besiegelt war … man stelle sich die Expeditionen vor – zwölf oder fünfzig oder ein paar Hundert, das macht keinen Unterschied –, die wieder und wieder in Kontakt mit diesem oder diesen Wesen kamen und erst zu Futter und dann neu erschaffen wurden. Diese Expeditionen, die durch ein verborgenes Tor in einer mysteriösen Grenze hierher kamen, ein Zugangspunkt, der (vielleicht) sein Spiegelgegenüber in den tiefsten Tiefen des Turms hat. Man stelle sich diese Expeditionen vor und begreife dann, dass sie alle in irgendeiner Form noch in Area X existieren – sogar diejenigen, die zurückgekommen sind, besonders diejenigen, die zurückgekommen sind: in Koexistenz, sich gegenseitig überlagernd, miteinander in Verbindung tretend, welcher Weg dazu ihnen geblieben sein mag. Vorstellbar, dass diese Kommunikation der Landschaft manchmal etwas Unheimliches verleiht, weil unser menschlicher Blick nun mal narzisstisch ist, aber hier ist das einfach Teil der natürlichen Umwelt. Vielleicht bekomme ich niemals heraus, was die Erschaffung dieser Doppelgänger ausgelöst hat, aber es spielt auch keine Rolle.
Ebenso vorstellbar ist, dass der Turm nicht nur die Welt innerhalb der Grenze neu und immer wieder erschafft, sondern dass er mehr und mehr Emissäre über die Grenze schickt, und diese Gesandten beginnen in verwilderten Gärten und auf öden Brachen mit ihrer Arbeit. Doch wie bewegen sie sich und wie weit? Welch fremde Substanzen kreuzen und mischen sich da ? Vielleicht erreicht die Infiltration irgendwann in der fernen Zukunft auch jenen Flecken felsiger Küste und keimt in den Gezeitenbecken, die ich so gut kenne? Es sei denn, natürlich, ich irre mich dahingehend, dass Area X sich selbst aus dem Schlummer erweckt, sich verändert, zu etwas Anderem wird, als sie vorher war.
Das Schreckliche, der Gedanke, den ich nach allem, was ich gesehen habe, nicht mehr verdrängen kann, ist, dass ich nicht länger mit Überzeugung sagen kann, dass das schlecht ist. Nicht, wenn ich die unberührte Natur von Area X sehe und dann die Welt jenseits, die wir so sehr verändert haben. Bevor die Psychologin starb, sagte sie, ich hätte ein paar neue Seiten an mir, aber ich glaube, sie meinte, ich sei zur anderen Seite übergelaufen . Das stimmt nicht – ich weiß nicht einmal, ob es Seiten gibt oder was das bedeuten mag – aber es könnte wahr sein. Ich begreife jetzt, dass ich mich dazu überreden lassen könnte. Ein religiöser oder abergläubischer Mensch, jemand der an Engel oder Dämonen glaubt, mag da anderer Meinung sein. So gut wie jeder könnte da anderer Ansicht sein. Aber ich bin nicht diese Menschen. Ich bin einfach nur die Biologin; ich brauche das alles nicht, um einen tieferen Sinn zu sehen.
Ich weiß, dass diese ganzen Spekulationen unvollständig, ungenau, unrichtig, nutzlos sind. Wenn ich keine echten Antworten habe, liegt das daran, dass wir immer noch nicht wissen, welche Fragen wir stellen sollen. Unser Instrumentarium ist nutzlos, unsere Methodologie liegt in Trümmern, unsere Beweggründe sind egoistisch.
Das ist alles, was ich berichten kann, obgleich mein Bericht nicht frei von Mängeln ist. Ich habe mich bemüht, aber das war’s jetzt auch. Vom Turm aus bin ich noch einmal kurz zum Basislager gegangen und dann hierher gekommen, auf die Spitze des Leuchtturms. Ich habe vier lange Tage damit verbracht, diesen Bericht, den Sie jetzt lesen, abzuschließen, trotz all seiner Fehler. Ergänzt wird er durch ein zweites Tagebuch, in dem alle Untersuchungsergebnisse der verschiedenen Proben vermerkt sind, die ich oder andere Mitglieder der Expedition entnommen haben. Ich habe sogar eine Nachricht für meine Eltern geschrieben.
Ich habe diese Materialien mit dem Tagebuch meines Mannes zusammengeschnürt und lasse sie hier, ganz oben auf dem Haufen unter der Falltür. Den Tisch und den Teppich habe ich an die Seite geschoben, sodass jeder finden kann, was vorher versteckt war. Außerdem habe ich das Foto des Leuchtturmwärters wieder in den Rahmen gesteckt und an seinem Platz im Zwischengeschoss aufgehängt. Ich habe das Gesicht ein zweites Mal eingekreist, ich konnte es einfach nicht lassen.
Wenn die Hinweise in den Tagebücher zutreffen, dann steht, wenn der Zyklus des Crawlers im Turm an sein nächstes Ende kommt, Area X eine Phase blutigen Aufruhrs bevor, eine Art verheerende Häutung, um es mal so zu bezeichnen. Vielleicht ist der Zündfunke sogar die Verbreitung aktivierter Sporen, die die Worte des Crawlers emittieren. In den vergangenen zwei Nächten habe ich einen wachsenden Energiekegel über dem Turm aufsteigen und über der umgebenden Wildnis niedergehen sehen. Aus dem Meer ist zwar noch nichts gestiegen, aber aus dem verlassenen Dorf haben sich ein paar Gestalten in Richtung Turm aufgemacht. Aus dem Basislager kein Lebenszeichen. Am Strand ist nicht mal mehr ein Stiefel der Psychologin zu sehen, als wäre sie mit dem Sand verschmolzen. Jede Nacht lässt mich das Gebrüll des Lebewesens im Schilf wissen, dass es die Herrschaft über sein Königreich nicht abzugeben gedenkt.
All dies gesehen zu haben, hat auch die letzte Asche der mal in mir lodernden Begierde, alles … alles Mögliche … wissen zu wollen, hinweggefegt. An ihre Stelle ist das Wissen getreten, dass das Leuchten noch nicht fertig mit mir ist. Es ist noch ganz am Anfang, und die Vorstellung, mich ständig selbst verletzen zu müssen, um menschlich zu bleiben, kommt mir irgendwie jämmerlich vor. Ich werde sicher nicht mehr hier sein, wenn die dreizehnte Expedition das Basislager erreicht. Haben sie mich schon geortet, oder sind sie kurz davor? Bin ich schon nach Hause zurückgekehrt? Oder werde auch ich einfach mit dieser Landschaft verschmelzen, werde ich aus einem Büschel Gräser oder aus dem Kanal aufblicken und einen anderen Forscher ungläubig auf mich hinabstarren sehen? Werde ich mir darüber klar sein, dass alles verkehrt und fehl am Platz ist?
Ich habe vor, tiefer in Area X vorzudringen, so weit zu gehen wie möglich, bevor es zu spät ist, meinem Ehemann die Küste hinauffolgen, sogar über die Insel hinaus. Ich glaube nicht, dass ich ihn finden werde – ich muss ihn auch nicht finden –, aber ich will sehen, was er gesehen hat. Ich möchte ihm nahe sein, ihn spüren, als wären wir in einem Zimmer. Und wenn ich ehrlich bin, ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass er immer noch hier ist, irgendwo, sogar in gänzlich anderer Gestalt – im Auge des Delfins, in der Berührung aufragender Mooswucherungen, immer und überall. Vielleicht finde ich sogar ein herrenloses Boot an einem einsamen Strand, wenn ich Glück habe, oder irgendein Zeichen, was passiert sein mag. Schon damit würde ich zufrieden sein, bei all dem anderen, was ich erfahren habe.
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