Schneller als erwartet erreichte ich die Stelle, wo wir die tote Anthropologin gefunden hatten. Irgendwie war ich überrascht, dass sie immer noch dort lag, inmitten der Überbleibsel ihres Abgangs – Kleiderfetzen, der leere Rucksack, ein paar zerbrochene Probenfläschchen, ihr Kopf, der in einem grotesken Winkel zum Körper lag. Sie war von einem sich bewegenden Teppich bleicher Organismen überzogen; als ich näher trat sah ich, dass er aus den kleinen, handförmigen Organismen bestand, die zwischen den Worten an der Wand hausten. Es war unmöglich zu sagen, ob sie sie schützten, umwandelten oder den Körper in seine Einzelteile zerlegten – genauso wenig, wie ich wusste, ob eine Version der Anthropologin tatsächlich der Vermesserin in der Nähe des Basislagers erschienen war, nachdem ich mich auf den Weg zum Leuchtturm gemacht hatte …
Ich blieb nicht länger stehen, sondern ging weiter nach unten.
Inzwischen war der Herzschlag des Turms lauter geworden und warf ein Echo. Die Worte an der Wand sahen jetzt frischer aus, als wären sie eben erst geschrieben und dann »getrocknet« worden. Unter dem Herzschlag bemerkte ich jetzt ein Summen, einen fast statisch brummenden Ton. Der scharfe Moder hier unten machte etwas Süßlich-Tropischem Platz. Ich bemerkte, dass ich schwitze. Doch am wichtigsten war, dass die Spuren des Crawlers unter meinen Stiefeln immer dicker und klebriger wurden, und ich versuchte, mich eher nahe der rechten Wand zu halten, um dieser Substanz auszuweichen. Aber auch die rechte Wand hatte sich verändert, sie war jetzt mit einer dünnen Schicht Moos oder Flechte bedeckt. Ich wollte mich keineswegs mit dem Rücken an der Wand entlangschieben, um den Bodenbelag zu umgehen, aber ich hatte keine Wahl.
Nachdem ich zwei Stunden nur langsam vorangekommen war hatte der Herzschlag des Turms eine solche Wucht erreicht, dass die Treppenstufen zu beben schienen, und das unterschwellige Brummen war zu einem kräftigen Prasseln geworden. Meine Ohren dröhnten, mein Körper vibrierte im Takt mit, und aufgrund der Feuchtigkeit war meine Kleidung inzwischen durchgeschwitzt; es war so schwül, dass ich mir die Maske vom Gesicht reißen wollte, um tief Luft zu holen. Aber ich widerstand der Versuchung. Ich war nah dran. Ich wusste, dass ich nah dran war … ich wusste nur nicht, woran.
Die Worte an den Wänden waren hier so frisch, dass sie vor Feuchtigkeit zu tropfen schienen; es gab viel weniger der handförmigen Lebewesen, und die, die zu sehen waren, hatten die Finger zur Faust geballt, als wären sie noch nicht recht erwacht und lebendig. Das was stirbt wird das Leben im Tod erkennen denn alles was vergeht ist nicht vergessen und wird zum Leben zurückgebracht und wird unter dem Stern des Nicht-Wissens die Welt durchwandern …
Ich ging den nächsten Spiralarm des Treppenhauses hinab, und als ich zu der schmalen Gerade vor der nächsten Kurve kam … sah ich Licht . Die Ränder eines stechenden, goldenen Lichts, das von etwas jenseits meines Blickfelds ausging, von der Wand verdeckt wurde, und das Leuchten in mir fieberte und pulsierte ihm entgegen. Das Brummen wurde noch einmal intensiver, und sein scharfes Zischen schien meine Ohren zum Bluten zu bringen. Der übermächtige Herzschlag dröhnte durch jeden Teil meines Körpers. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, ein Mensch zu sein, sondern nur noch Empfangsstation für eine Reihe übermächtiger Transmissionen. Ich spürte, wie das Leuchten aus meinem Mund drängte, ein halb transparenter Nebel, der gegen die Atemmaske schlug. Keuchend riss ich sie mir herunter. Gebe zurück, was du bekommen hast , schoss mir durch den Kopf, ohne zu wissen, was ich damit vielleicht nährte, oder was es für diese Zusammenballung von Zellen bedeutete, aus denen ich bestand.
Verstehen Sie, ich hätte mich ebenso wenig umdrehen und zurückgehen können, wie ich durch die Zeit in die Vergangenheit reisen konnte. Mein freier Wille war wie gelähmt, und sei es nur durch den heftigen Sog, den das Unbekannte auf mich ausübte. Hier aufzugeben, zur Oberfläche zurückzukehren, ohne um diese Ecke gegangen zu sein – meine Phantasie hätte mich den Rest meines Lebens lang gequält. In diesem Augenblick hatte ich mich selbst überzeugt, dass ich eher wissend sterben würde … etwas, irgendetwas wissend.
Ich überschritt die Schwelle. Ich versank im Licht.
Während des letzten Monats in Rock Bay war ich eines Abends außergewöhnlich unruhig. Ich hatte bereits erfahren, dass mein Stipendium nicht verlängert wurde, und noch keinen neuen Job in Aussicht. Um mich abzulenken hatte ich mal wieder einen Fremden in der Bar abgeschleppt, aber der war schon vor Stunden wieder gegangen. Ich konnte meine Schlaflosigkeit nicht abschütteln und war immer noch betrunken. Es war dumm und gefährlich, aber ich beschloss, in meinen Pickup-Truck zu steigen und hinaus zu den Gezeitenbecken fahren. Ich wollte mich an das ganze verborgene Leben anschleichen und irgendwie versuchen, es zu überraschen. Ich hatte die feste Vorstellung, dass die Gezeitenbecken sich des Nacht, wenn niemand sie beobachtete, veränderten. Vielleicht passiert das, wenn man etwas so lange studiert hat, dass man aus dem Handgelenk die eine Seeanemone von der anderen unterscheiden oder jeden Bewohner dieser Becken bei einer Gegenüberstellung identifizieren kann, sollte er etwas ausgefressen haben.
Ich parkte den Wagen und machte mich mit Hilfe der winzigen Taschenlampe, die ich an meinem Schlüsselbund hatte, auf den gewundenen Weg hinunter zum schottrigen Strand. Dann watete ich durchs seichte Wasser und kletterte auf die Felsbrocken. Ich wollte ganz und gar in etwas aufgehen. Mein ganzes Leben lang hatten die Leute gesagt, ich sei zu kontrolliert, aber das war nie der Fall. Ich hatte mich niemals unter Kontrolle, ich wollte das auch gar nicht.
Und obwohl ich immer tausend Entschuldigungen vorbrachte und anderen die Schuld gab, wusste ich an diesem Abend, dass ich verschissen hatte. Berichte nicht abgegeben hatte. Mich nicht auf den Job konzentriert hatte. Abwegige Daten irgendwelcher Nebensächlichkeiten gesammelt hatte. Nichts hatte, was jene Organisation zufriedengestellt hätte, der ich das Stipendium verdankte. Ich war die Königin der Gezeitenbecken, mein Wort war Gesetz, und ich berichtete das, was ich für berichtenswert hielt. Ich hatte mich ablenken lassen, wie eigentlich immer, weil ich in meiner Umgebung aufging, mich nicht davon separieren , keinen Abstand halten konnte – Objektivität war ein Fremdwort für mich.
Ich ging mit meiner jämmerlichen Taschenlampe von Becken zu Becken, verlor ein halbes Dutzend mal das Gleichgewicht und fiel fast hin. Falls irgendjemand mich dabei beobachtet hätte – und wer sagt jetzt noch, dass da niemand war? –, er hätte eine fluchende, angetrunkene, leichtsinnige Biologin gesehen, die jegliche Perspektive verloren hatte, die schon das zweite Jahr am Stück hier draußen am Ende der Welt war und sich verletzlich und einsam fühlte, obwohl sie sich immer geschworen hatte, niemals einsam zu sein. Dinge, die sie getan und gesagt hatte, und die die Gesellschaft unsozial und selbstsüchtig nannte . Die in dieser Nacht in den Becken nach etwas suchte, obwohl auch das, was sie am Tag entdeckte, wundersam genug war. Sie hätte ebenso gut auf den glitschigen Felsen schreien, kreischen und herumwirbeln können, als würden einen auch die besten Stiefel der Welt nicht mal im Stich lassen und nach einem Sturz mit der Stirn in einer Pfütze voller Napfschnecken, Seepocken und Blut zurücklassen.
Aber Tatsache ist, dass – auch wenn ich es nicht verdient hatte, und hatte ich wirklich nur nach etwas Vertrautem gesucht? – ich etwas Wundersames fand, etwas, das sich mir durch sein eigenes Licht enthüllte. Ich erspähte ein glitzerndes, zitterndes Versprechen auf Erleuchtung in einem der größeren Becken, das mir zu denken gab. Wollte ich wirklich ein Zeichen? Wollte ich wirklich etwas entdecken, oder wollte ich das nur glauben? Nun gut, ich beschloss, dass ich etwas entdecken wollte, denn ich ging schlurfend darauf zu, war plötzlich auch nüchtern genug, um auf meine Schritte zu achten und mir nicht den Schädel aufzuschlagen, bevor ich sah, was immer das dort in dem Becken war.
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