Als ich schließlich dort stand, die Hände auf den gebeugten Knien, und in dieses Gezeitenbecken starrte, sah ich einen riesigen Seestern, eine sehr seltene Gattung, sechsarmig, größer als ein Kochtopf, der ein dunkelgoldenes Licht ins Wasser verströmte, als würde er brennen. Die meisten unserer Profession verzichten auf seinen wissenschaftlichen Namen zugunsten der viel passenderen Bezeichnung »Weltenzerstörer«. Er war übersät mit dicken Stacheln, und seine Ränder zierten, wie ich eben noch erkennen konnte, Tausende zartester smaragdgrüner Flimmerhärchen, die ihn auf seiner Route vorantrieben, auf der Suche nach Beute: andere, kleinere Seesterne. Ich hatte noch nie einen »Weltenzerstörer« gesehen, nicht mal in einem Aquarium, und der Anblick war so unerwartet, dass ich völlig den glitschigen Fels vergaß und, um Balance ringend, fast fiel, mich aber gerade noch mit einem Arm am Rand des Beckens abstützte.
Doch je länger ich ihn anstarrte, um so weniger konnte ich diese Kreatur begreifen. Je fremder sie mir vorkam, um so mehr hatte ich das Gefühl, überhaupt nichts zu wissen – über die Natur, über Ökosysteme. Etwas an meiner Stimmung und ihrem düsteren Glühen verdunkelte jeden meiner Sinne, mit dem ich diese Kreatur hätte wahrnehmen können, die natürlich ihren Platz in der Taxonomie zugewiesen bekommen hatte – katalogisiert, untersucht, beschrieben –, aber nichts davon half mir jetzt weiter. Und wenn ich sie noch länger anstarrte, dann, war mir klar, würde ich schließlich zugeben müssen, dass ich auch über mich weniger als nichts wusste, ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht.
Als ich schließlich meinen Blick vom Seestern losgerissen hatte und wieder stand, konnte ich nicht mehr erkennen, wo Himmel und Meer zusammentrafen, ob ich auf Wasser blickte oder den Strand. Ich war völlig hilflos und deplatziert, und das Einzige, woran ich mich in diesem Augenblick orientieren konnte, war das glühende Leuchtfeuer zu meinem Füßen.
Um die Ecke zu gehen und zum ersten Mal dem Crawler gegenüberzustehen, war eine ähnliche Erfahrung, allerdings tausendmal stärker. Wenn ich vor ein paar Jahren auf diesen Felsen nicht das Meer vom Strand hatte unterscheiden können, so waren es hier die Treppenstufen von der Wand, und obwohl ich mich mit dem Arm an der Wand abstützte, schien die Wand zurückzuweichen, bevor ich sie berührte, und ich musste kämpfen, nicht durch sie hindurch zu fallen.
Dort unten in der Tiefe des Turms versuchte ich erst gar nicht zu verstehen, was ich da anstarrte, und auch jetzt noch muss ich mich wirklich anstrengen, die vielen Fragmente zusammenzufügen. Es ist schwer zu sagen: Vielleicht ist das, was meinen Kopf so leer sein lässt, nur ein Füllstoff, einfach, um den vielen Unbekannten ihr Gewicht zu nehmen.
Hatte ich gesagt, ich hätte ein goldenes Licht gesehen? Sobald ich komplett um die Ecke herum war, schien es nicht länger golden, sondern blaugrün, und dieses blaugrüne Licht war mit nichts zu vergleichen, was ich jemals gesehen hatte. Es brandete auf, blendend und blutend und massig und überlagernd und faszinierend. Es überforderte meine Fähigkeit, Formen in ihm zu erkennen so sehr, dass ich mich zwang, den Blick abzuwenden und mich zunächst darauf zu konzentrierten, was meine anderen Sinne mir zu sagen hatten.
Ich hörte inzwischen eine Art Eis-Crescendo oder splitterndes Eis, ein unirdisches Getöse, das ich zuvor irrtümlich für ein Brummen gehalten hatte und das jetzt eine eindringliche Melodie und einen Rhythmus annahm, die meinen ganzen Kopf ausfüllten. Nur vage und von sehr weit her verstand ich jetzt, dass auch die Worte von Klang erfüllt waren, aber mein Hörvermögen hatte nicht ausgereicht, um das zu verstehen. Die Vibrationen hatten Textur und Bedeutung, und es roch irgendwie verbrannt, wie nach späten Herbstblättern oder einer riesigen und weit entfernten Maschine, die kurz vor der Überhitzung stand. Ich hatte einen Geschmack wie von brennender Salzlake auf der Zunge.
Keine Worte können … Kein Foto könnte …
Als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, veränderte sich der Crawler weiterhin mit blitzartiger Geschwindigkeit, als wolle er meine Fähigkeiten, ihn zu begreifen, verhöhnen. Ich sah eine Figur innerhalb verschiedener Schichten gebrochener Glasscheiben. Ich sah Schichten, die einen Torbogen bildeten. Ich sah ein riesiges schneckenartiges Monster, das von einem Satellitenring noch merkwürdigerer Kreaturen umgeben war. Ich sah einen funkelnden Stern. Meine Augen prallten immer wieder davon ab, als wäre der Sehnerv nicht in der Lage, das alles zu erfassen.
Dann blähte es sich in meiner ramponierten Wahrnehmung zu einer ungeheuren Größe auf, die immer weiter wuchs und wuchs, während sie auf mich einzustürzen schien. Die Gestalt dehnte sich aus, bis sie selbst dort war, wo sie nicht war oder nicht hätte sein sollen . Inzwischen schien sie mehr Hindernis oder Wand oder eine massive Tür zu sein, die den Zugang zu den Treppen blockierte. Keine Wand aus Licht – golden, blau, grün, aus irgendeiner anderen Art Spektrum –, sondern eine Mauer aus Fleisch, die Licht ähnelte , mit eingeschlossenen scharfen, gekrümmten Elementen und Gewebe wie Eis, wie aus gefrorenem fließendem Wasser. Der Eindruck von etwas Lebendigem, das träge drumherum kreiste wie weiche Kaulquappen, aber an den Rändern meines Gesichtsfelds, sodass ich nicht sagen konnte, ob es sich dabei um diese nicht-existenten dahintreibenden grauen Staubflecken handelte, die das Auge narren.
Im Inneren dieser vielfach gebrochenen Massivität, unter all diesen unterschiedlichen Abbildern des Crawlers – halb blind, aber immer noch mit Orientierung durch meine drei anderen Sinne –, glaubte ich den dunklen Schatten eines Arms zu erkennen oder eine Art Echo eines Arms, der in ständiger schattenhafter Bewegung auf die linke Wand Mitteilungen von großer Tiefe und Signalkraft übertrug, was sein Vorankommen mühselig und langsam machte – seine Botschaft, seine Chiffren der Veränderung, von Neukalibrierung und Korrektur, von Verwandlung. Und vielleicht einen weiteren dunklen Schatten, vage kopfförmig über dem Arm – aber so undeutlich, als wäre ich durch trübes Wasser geschwommen und hätte in einiger Entfernung einen Umriss gesehen, der durch dickes Seegras kaum zu erkennen war.
An diesem Punkt versuchte ich, wieder zurückzugehen, die Treppen hochzukriechen. Aber ich konnte nicht. Entweder hielt der Crawler mich gefangen, oder mein Gehirn gaukelte mir irgendetwas vor, aber ich konnte mich nicht bewegen.
Die Wirkung des Crawlers veränderte sich oder ich fing an, immer wieder in Ohnmacht zu fallen und erneut zu Bewusstsein zu kommen. Es schien so, als sei dort nichts, ganz und gar nichts, und dann zitterte sich der Crawler zurück ins Leben, um gleich wieder zu verschwinden, und das einzig Konstante war die Ahnung eines Arms und der Eindruck von Worten, die geschrieben wurden.
Was bleibt einem zu tun, wenn die fünf Sinne nicht genug sind? Denn ich konnte es auch hier immer noch nicht richtig verstehen , nicht besser jedenfalls als unter dem Mikroskop, und das machte mir an meisten Angst. Warum verstand ich es nicht? In Gedanken stand ich vor dem Seestern in Rock Bay, und der Seestern wuchs und wuchs, er wurde nicht nur zum Gezeitenbecken, sondern zur ganzen Welt, und ich stakste auf der rauen, phosphoreszierenden Oberfläche herum und starrte wieder in den Nachthimmel, während sein Licht mich umspielte und durch mich hindurchfloss.
Das Licht entwickelte einen schrecklichen Druck, als würde das ganze Gewicht vom Area X hier zusammenlaufen, also änderte ich meine Taktik, versuchte mich darauf zu konzentrieren, wie die Worte an der Wand entstanden, das vage Bild eines Kopfes oder Helmes oder … was? … irgendwo oberhalb des Arms. Eine Kaskade Funken, von denen ich wusste, dass es Lebewesen waren. Ein neues Wort an der Wand. Und ich immer noch fast blind und das Leuchten, das sich in mir wand und eine fast demütige Haltung einnahm, als wären wir in einer Kathedrale.
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