Bei allem, was ich hier sehe und erlebe wünschte ich, dass du hier wärst. Ich wünschte, wir hätten uns zusammen beworben. Ich hätte dich hier, auf der Wanderung nach Norden, viel besser verstanden. Wir hätten auch nicht reden müssen, wenn du nicht gewollt hättest. Das hätte mich auch nicht gestört. Überhaupt nicht. Und wir hätten auch nicht zurückgehen müssen. Wir wären einfach immer weiter gegangen, bis es nicht mehr ging.
Es war eine langsam gewonnene und schmerzhafte Einsicht, die sich mit dem Lesen des Tagebücher einstellte. Mein Ehemann hatte ein Seelenleben gehabt, das über seine gesellige Extrovertiertheit hinausging, und wenn ich mehr darüber gewusst und mich ihm geöffnet hätte, dann hätte ich das vielleicht auch verstehen können. Aber hatte ich eben nicht. Ich hatte mich mit Gezeitenbecken und Pilzen, die Plastik zersetzen können, befasst – aber nicht mit ihm. Von allen Aspekten dieses Tagebuchs nagte dieser am meisten an mir. Auch er hatte seinen Anteil an unseren Problemen – trieb mich zu sehr an, wollte zu viel von mir, sah Dinge in mir, die es nicht gab. Aber ich hätte ihm auf halbem Weg entgegenkommen und doch meine Souveränität behalten können. Dafür war es jetzt zu spät.
Seine persönlichen Beobachtungen waren voller Ausschmückungen und Anregungen: In der Randspalte die Beschreibung eines Gezeitenbeckens in den Felsen an der Küste gleich hinter dem Leuchtturm. Eine ausführliche Beobachtung, wie ein Scherenschnabel bei Ebbe versucht, einen großen Fisch zu töten, wobei er völlig atypisch eine bei Niedrigwasser offenliegende Austernkolonie benutzt. Fotos des Gezeitenbeckens steckten in einem Umschlag weiter hinten. Auch gepresste Wildblumen waren behutsam in diesem Umschlag untergebracht, eine schmale Samenschote, ein paar unbekannte Blätter. Mein Mann interessierte sich im Grunde für all das herzlich wenig; den Scherenschnabel zu beobachten und dann eine ganze Seite darüber zu schreiben hatte wahrscheinlich seine ganze Konzentration erfordert. Ich wusste, dass dieser Teil für mich und nur für mich allein war. Zwar fand sich nirgendwo ein liebevolles Wort, aber ich verstand, warum er sich damit zurückhielt. Er wusste genau, wie sehr ich Worte wie »Liebe« hasste.
Den letzten Eintrag hatte er geschrieben, nachdem er wieder zum Leuchtturm zurückgekehrt war: »Ich werde wieder der Küste folgen. Aber nicht zu Fuß. Im verlassenen Dorf gibt es ein Boot. Es hat zwar Löcher und ist verrottet, aber am Wall um den Leuchtturm gibt es genug Holz, mit dem ich es reparieren kann. Ich werde so weit ich komme an der Küste entlangfahren. Bis zur Insel, und vielleicht noch weiter. Wenn du das hier jemals liest, weißt du, wohin ich gehe. Dort werde ich sein.« War es möglich, dass es, sogar innerhalb dieser ganzen sich verändernden Ökosysteme, einen weiteren Übergang gab – wo die Macht des Turms endete, aber die Grenze noch keinen Einfluss hatte?
Das Lesen des Tagebuchs hinterließ bei mir das tröstliche und immer wieder aufflackernde Bild meines Mannes, wie er in einem selbstgebauten Boot in See stach, durch die brechenden Wellen der Brandung in ruhigere Gewässer gleich dahinter. Wie er der Küstenlinie nach Norden folgte, alleine, und in dieser Erfahrung die Erinnerung an jene kurzen Momente der Freude suchte, die er aus besseren Tagen kannte. Es machte mich rasend stolz auf ihn. Es zeigte Entschlossenheit. Es zeigte Mut. Es schuf ein engeres und intimeres Band zwischen uns als wohl alles, was wir unserer Zeit als Paar hatten.
Es waren nur Gedankensplitter, ein kurzes Aufblitzen, aber in der Folge meiner Lektüre fragte ich mich doch, ob er noch immer ein Tagebuch führte oder ob das Delfinauge mir aus einem anderen Grund, als dass es so menschlich wirkte, bekannt vorgekommen war. Aber ich verbannte diesen Quatsch schnell wieder aus meinen Gedanken; manche Fragen zerstören dich, wenn du die Antwort nur lange genug vorenthalten bekommst.
Meine Verwundungen spürte ich inzwischen nur noch beim Atmen durch konstante, aber erträgliche Schmerzen. Es war auch kein Zufall, dass mit Anbruch der Dämmerung das Leuchten wieder durch meine Lungen und den Hals fegte, sodass ich mir einbildete, es gleich in kleinen Wölkchen aus meinem Mund aufsteigen zu sehen. Beim Gedanken an den grünen Halo über der Psychologin, dieses Zeichen allen Elends, den ich von Ferne gesehen hatte, schüttelte es mich. Ich konnte es kaum erwarten, dass es wieder Morgen wurde, auch wenn dies nur die Vorahnung einer noch weit entfernten Zukunft zu sein schien. Ich würde jetzt zum Turm zurückkehren. Wohin sollte ich sonst gehen. Ich nahm weder das Sturmgewehr noch eine der anderen Waffen mit. Ich ließ mein Messer im Lager. Ich ließ den Rucksack dort, hängte nur eine Wasserflasche an meinen Gürtel. Ich nahm die Kamera mit, überlegte es mir auf dem Weg aber anders und legte sie auf halber Strecke neben einen Felsen. Der Trieb, alles aufzuzeichnen, würde mich nur ablenken, und Fotos zählten auch nicht mehr als Proben. Im Leuchtturm warteten Tagebücher aus mehreren Jahrzehnten auf mich. Generationen von geisterhaften Expeditionen waren mir vorausgegangen. Die Sinnlosigkeit des Ganzen und der Druck fingen wieder an, mir an die Nieren zu gehen. Was für eine Verschwendung.
Ich hatte eine Taschenlampe eingesteckt, stellte aber fest, dass ich durch das grüne Leuchten meines Körpers genug sehen konnte. Ich bewegte mich schnell durch das Dunkel, immer den Weg zum Turm entlang. Die wolkenlose Schwärze über mir, wie eingerahmt von den ausladenden Schattenrissen der Pinien, ließ die ganze Grenzenlosigkeit des Himmels aufscheinen. Keine Grenzen, kein künstliches Licht, das die Tausende glitzernder Nadelstiche überstrahlte. Ich konnte alles sehen. Als Kind hatte ich in den Nachthimmel gestarrt und wie jeder auf Sternschnuppen gewartet. Als Erwachsene, während ich auf dem Dach meines Häuschens nahe der Bucht saß und als ich noch später immer wieder das leere Grundstück aufsuchte, hielt ich nicht nach Sternschnuppen Ausschau, sondern nach Fixsternen und versuchte mir vorzustellen, welche Art von Leben sich auf diesen himmlischen Gezeitenbecken entwickelt haben mochte, die so weit von uns entfernt waren. Die Sterne, die ich jetzt sah, wirkten fremd, waren über das Dunkel in chaotischen neuen Mustern verteilt, wo ich doch gerade in der Nacht zuvor noch in ihrer vertrauten Anordnung Trost gefunden hatte. Sah ich sie erst jetzt deutlicher? War ich vielleicht weiter von Zuhause weg, als ich gedacht hatte? Die grimmige Befriedigung, die ich bei diesem Gedanken empfand, war eigentlich fehl am Platz.
Als ich den Turm betrat, kam der Herzschlag aus größerer Entfernung als zuvor. Ich hatte meine Maske fest um Mund und Nase gezurrt und wusste nicht, ob ich weitere Kontaminierungen vermeiden oder mir das Leuchten so bewahren wollte. Die Biolumineszenz der Worte an der Wand hatte zugenommen, und das Schimmern meiner ungeschützten Haut schien darauf zu reagieren und beleuchtete meinen Weg. Aber das waren die einzigen Unterschiede, die mir auffielen, während ich die ersten Stockwerke hinabstieg. Wenn das daran lag, dass dieser Oberlauf der Treppen mir inzwischen nicht mehr fremd war, so wurde das durch den ernüchternden Umstand aufgewogen, dass ich zum ersten Mal alleine hier war. Mit jeder neuen Biegung, die diese Wände hinab in eine Dunkelheit nahmen, die nur von dem grießigen, grünen Licht gebannt wurde, rechnete ich fest damit, dass etwas aus dem Schatten springen und mich angreifen würde. In diesen Momenten vermisste ich die Vermesserin und musste meine Schuldgefühle unterdrücken. Und obwohl ich mich auf anderes konzentrierte, merkte ich, wie die Worte an den Wänden mich anzogen; sogar als ich nur noch an die Tiefe und das, was mich dort erwartete dachte, zogen die Worte mich immer wieder in ihren Bann … Und siehe über den Pflanzen im Schatten werden Gnade und Schonung liegen die dunkle Blumen erblühen lassen, und ihre Zähne sollen verschlingen und vernichten und vom Vergehen eines Zeitalters künden …
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