Ich hatte keine Möglichkeiten, auch nur eine dieser Theorien zu erhärten, aber sie zu entwickeln war mir ein grimmiger Trost.
Ich hob mir das Tagebuch meines Mannes bis zum Schluss auf, obwohl seine Sogwirkung fast so stark wie die des Turms war. Statt dessen konzentrierte ich mich auf das, was ich mit zurückgebracht hatte: Die Proben aus dem verlassenen Dorf und der Psychologin, sowie die Proben meiner eigenen Haut. Ich baute das Mikroskop auf dem wackeligen Tisch auf, den die Vermesserin wohl schon derart lädiert vorgefunden hatte, dass er ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr wert schien. Es zeigte sich, dass beide Zellproben der Psychologin, die der nicht infizierten Schulter und die der Wunde, nur aus normalen menschlichen Zellen bestanden. Aber das traf auch die Zellen zu, die ich mir selbst entnommen hatte. Und das war einfach unmöglich. Ich prüfte die Proben wieder und wieder und tat sogar, als ob ich kein Interesse an ihnen hätte, bevor ich mich mit meinem Adlerauge über sie hermachte.
Ich war überzeugt davon, dass diese Zellen, wann immer ich durch das Okular des Mikroskops schaute, zu etwas anderem wurden, dass der pure Akt der Beobachtung alles änderte. Ich wusste, das war Irrsinn, aber ich glaubte es trotzdem. Ich hatte das Gefühl, dass Area X sich über mich lustig machte – jeder Grashalm, jedes verirrte Insekt, jeder Wassertropfen. Was würde passieren, wenn der Crawler am Fuß des Turms angekommen war? Was würde passieren, wenn er wieder nach oben kam?
Dann untersuchte ich die Proben aus dem Dorf: Moos aus der »Stirn« einer der Wucherungen, Holzsplitter, von einem toten Fuchs, einer Ratte. Das Moos und der Fuchs – bestanden aus modifizierten menschlichen Zellen. Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären …
Vermutlich hätte ich schockiert vom Mikroskop zurückzucken sollen, aber ich war jenseits einer solchen Reaktion bei allem, was das Gerät mir zeigen mochte. Stattdessen begnügte ich mich mit stillem Fluchen. Der Keiler auf dem Weg zum Basislager, die fremden Augen der Delfine, das gequälte Tier im Schilf. Perverserweise sogar der Gedanke, dass von der elften Expedition nur Replikanten zurückgekommen waren. All das schien zu belegen, was ich durch das Mikroskop sah. Hier war alles in Verwandlung begriffen, und so sehr ich mich auch auf meinem Weg zum Leuchtturm als Teil einer »natürlichen« Landschaft gefühlt hatte, so konnte ich doch nicht bestreiten, dass diese Habitate sich auf eine zutiefst unnatürliche Weise verwandelten. Ein perverses Gefühl der Erleichterung überkam mich; zumindest hatte ich jetzt einen Beweis, dass hier etwas sehr Merkwürdiges passierte, zusätzlich zu dem Gehirngewebe, das die Anthropologin der Haut des Crawlers entnommen hatte.
Schließlich hatte ich von den Proben dann doch genug. Ich aß etwas zu Mittag und entschloss mich, keine weitere Energie mit dem Aufräumen des Lagers zu verschwenden; die nächste Expedition sollte ja auch noch etwas zu tun haben. Es war ein weiterer strahlender Nachmittag mit blendend blauem Himmel und gerade noch angenehmer Hitze. Eine Zeitlang saß ich einfach da und beobachtete die Libellen, die durchs hohe Gras glitten, und die Loopings, die ein rotköpfiger Specht drehte. Ich schob nur das Unausweichliche hinaus, meine Rückkehr zum Turm, und verschwendete meine Zeit.
Schließlich nahm ich mir das Tagebuch meines Mannes, und als ich anfing zu lesen und immer weiter las überfluteten mich nicht enden wollende Wellen des Leuchtens und verbanden mich mit der Erde, dem Wasser, den Bäumen und der Luft, während ich mich weiter und immer weiter öffnete.
Nichts am Tagebuch meines Mannes war so, wie man es hätte erwarten können. Von einigen knappen, hingekritzelten Ausnahmen abgesehen waren alle Einträge an mich gerichtet. Mir war das unangenehm, und sobald es nicht mehr zu ignorieren war, musste ich mich zusammennehmen, um das Tagebuch nicht einfach fallen zu lassen, als wäre es Gift. Meine Reaktion hatte nichts mit Liebe oder Nicht-Liebe zu tun, sondern entstand eher aus einem Schuldgefühl. Er hatte dieses Tagebuch mit mir teilen wollen, und jetzt war er entweder richtig tot oder existierte in einer Form, die mir keine Möglichkeit bot, ihm zu antworten, mit ihm zu kommunizieren.
Die elfte Expedition hatte aus acht Männern bestanden: Einem Psychologen, zwei Sanitätern (einer davon mein Mann), ein Linguist, ein Vermesser, ein Biologe, ein Anthropologe und ein Archäologe. Sie waren im Winter nach Area X gekommen, als die Bäume schon den größten Teil der Blätter verloren hatten und das Schilfrohr härter und dicker war. Seiner Beschreibung nach wurden die blühenden Büsche »düster« und schienen am Weg zu »kauern«. »Weniger Vögel als frühere Berichte erwarten ließen«, schrieb er. »Aber wohin verschwinden sie? Das weiß nur Geistervögelchen.« Der Himmel war meistens verhangen und der Wasserpegel der Zypressensümpfe niedrig. »Kein Regen in der Zeit, die wir jetzt schon hier sind,« schrieb er am Ende der ersten Woche.
Auch sie hatten das, was ich den Turm nenne, am sechsten oder siebten Tag entdeckt – ich war mehr denn je davon überzeugt, dass die Lage des Basislagers so gewählt war, dass es zu dieser Entdeckung kommen musste –, aber ihr Vermesser war der Ansicht, sie müssten erst einmal die weitere Umgebung kartieren. Was bedeutete, dass sie anderen Direktiven folgten als wir. »Keiner von uns ist scharf darauf, dort hineinzugehen«, schrieb mein Mann. »Und ich am allerwenigsten.« Mein Mann litt unter Klaustrophobie, er stand manchmal sogar mitten in der Nacht aus unserem gemeinsamen Bett auf, um auf der Veranda zu schlafen.
Aus welchem Grund auch immer forderte der Psychologe die Expeditionsteilnehmer nicht dazu auf, in den Turm hinabzusteigen. Sie erkundeten das weitere Umfeld, das verlassene Dorf, den Leuchtturm und noch weiter. Beim Leuchtturm beschrieb mein Mann ihr Grauen, als sie die Zeichen des Gemetzels fanden, aber »aus Respekt vor den Toten nicht anfingen, aufzuräumen« – womit er wohl die umgestürzten Tische im Erdgeschoss meinte. Das Foto des Leuchtturmwärters an der Wand des Treppenhauses erwähnte er nicht, worüber ich etwas enttäuscht war.
Wie ich hatten auch sie den Berg der Tagebücher ganz oben im Leuchtturm entdeckt und es mit der Angst bekommen. »Wir hatten einen erbitterten Streit darüber, was wir jetzt tun sollten. Ich wollte die Mission abbrechen und nach Hause zurückkehren, denn offenbar hatte man uns belogen.« Aber an diesem Punkt hatte der Psychologe offenbar wieder die Kontrolle übernommen, wenn auch nur eine schwache. Eine der Anweisungen, die jede Expedition nach Area X mit auf den Weg bekam, war, zusammenzubleiben. Aber im nächsten Eintrag hatten die Teilnehmer beschlossen, sich zu trennen – als wollten sie die Mission retten, indem jede der teilnehmenden Personen ihrem eigenen Willen folgen durfte – und so sicherzustellen, dass niemand zur Grenze zurückgehen würde. Der andere Sanitäter, der Anthropologe, der Archäologe und der Psychologe blieben im Leuchtturm, um die Tagebücher zu lesen und die Gegend um den Leuchtturm zu erkunden. Der Linguist und der Biologe gingen zurück, um den Turm zu untersuchen. Mein Mann und der Vermesser wollten weiter, den Landstrich jenseits des Leuchtturms erkunden.
»Dir würde es hier großartig gefallen«, schrieb er in einem besonders manischen Eintrag, der nicht so sehr nach Optimismus, sondern eher nach verstörender Euphorie klang. »Du würdest das Licht über den Dünen lieben. Du würdest die pure Weite dieser Wildnis lieben.«
Sie wanderten eine weitere Woche an der Küste entlang, kartierten die Landschaft und waren ganz sicher, an irgendeinem Punkt auf die Grenze zu stoßen, in welcher Form sie sich auch zeigen mochte – irgendetwas, das sie am Weitergehen hinderte.
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