Aber nichts dergleichen geschah.
Stattdessen waren sie Tag für Tag mit dem gleichen Habitat konfrontiert. »Ich glaube, wir gehen nach Norden«, schrieb er, »aber obwohl wir jeden Abend beim Dunkelwerden fünfzehn bis zwanzig Meilen hinter uns gebracht haben, verändert sich nichts. Alles sieht gleich aus«, wobei er ausdrücklich betonte, dass er nicht der Meinung sei, etwas würde sie »in einer wiederkehrenden Schleife gefangenhalten.« Ihm war aber klar, dass »wir eigentlich inzwischen die Grenze erreichen hätten müssen.« Allerdings waren sie tief in ein Gebiet vorgedrungen, das Southern Reach bisher noch nicht hatte kartieren lassen , »aber die Unbestimmtheit unserer Vorgesetzten hatte uns annehmen lassen, dass es existiert, irgendwo im letzten Winkel zur Grenze.«
Auch ich wusste, dass Area X kurz hinter dem Leuchtturm endete. Aber woher wusste ich das? Unsere Vorgesetzten hatten es uns während der Ausbildung gesagt. Also wusste ich tatsächlich überhaupt nichts.
Schließlich kehrten sie um, weil »wir hinter uns in großer Entfernung Lichtkaskaden sahen und, aus dem Landesinneren, noch mehr Lichter und Klänge hörten, die wir nicht identifizieren konnten. Wir fingen an, uns Sorgen um die Expeditionsteilnehmer zu machen, die wir zurückgelassen hatten.« Als sie umkehrten, waren sie in Sichtweite einer »felsigen Insel, die erste Insel überhaupt, die wir sahen«, wobei sie »einen heftigen Drang verspürten, sie zu erforschen, obwohl es nicht einfach zu sein schien, überzusetzen«. Die Insel »schien irgendwann einmal bewohnt gewesen zu sein – wir konnten über einen Hügel verteilte Steinhäuser erkennen und weiter unten einen Anleger.«
Der Rückweg zum Leuchtturm dauerte vier Tage, und nicht sieben, »als ob das Land sich zusammengezogen hätte.« Am Leuchtturm war der Psychologe verschwunden und im Zwischengeschoss auf halbem Weg nach oben stießen sie auf die blutigen Folgen einer Schießerei. Sie trafen auf den Archäologen, der im Sterben lag und »und berichtete, dass etwas ›nicht von dieser Welt‹ die Treppen hochgekommen wäre und den Psychologen umgebracht und beim Rückzug seinen Körper mitgenommen hatte. ›Aber der Psychologe kam später wieder zurück‹, delirierte der Archäologe. Es gab noch zwei weitere Leichen, aber keine davon war der Psychologe. Er konnte uns das Fehlen nicht erklären. Er konnte uns auch nicht sagen, warum sie aufeinander geschossen hatten, er sagte nur wieder und wieder, ›wir haben uns gegenseitig misstraut‹.« Mein Mann bemerkte, dass »einige der Wunden, die ich sehen konnte, nicht von Kugeln stammten, und auch die Blutspritzer an der Wand hatten nichts mit dem zu tun, was ich von einem Tatort wusste. Der Boden war mit einem merkwürdigen Belag überzogen.«
Der Archäologe »hatte sich in einer Ecke des Flurs halb aufgerichtet und drohte, uns zu erschießen, wenn wir ihm nahe genug kämen, um seine Verletzungen sehen zu können. Kurz darauf starb auch er.« Später schleiften sie die Leichen nach unten und begruben sie hoch am Strand in einiger Entfernung vom Leuchtturm. »Das war nicht einfach, Geistervögelchen, und ich weiß nicht, ob wir uns davon je wirklich erholen werden. Eigentlich nicht.«
Blieben noch der Linguist und der Biologe im Turm. »Der Landvermesser schlug vor, entweder an der Küste nördlich des Leuchtturms zurückzugehen, oder die Küste hinab dem Strand zu folgen. Aber wir beide wussten, dass wir damit nur den Tatsachen auswichen. Tatsächlich meinte er, dass wir die Mission abbrechen und uns in der Landschaft verlieren sollten.«
Die Landschaft selbst war inzwischen dabei, Wirkung zu entfalten. Die Temperatur stieg und fiel in extremen Sprüngen. Es polterte tief unter der Oberfläche, was wie ein leichtes Erdbeben wirkte. Die Sonne schien eine »grünliche Färbung« anzunehmen, als ob »die Grenze irgendwie unser Wahrnehmungsvermögen verzerrt hätte«. Sie sahen auch »ganze Vogelschwärme Richtung Binnenland fliegen – aber nicht eine Art pro Schwarm, sondern Falken und Enten, Reiher und Adler, alle zusammen, als würden sie gemeinsame Sache machen.«
Im Turm wagten sie sich nur ein paar Stockwerke hinab, bevor sie wieder nach oben stiegen. Mir fiel auf, dass von Worten an der Wand keine Rede war. »Sollten der Linguist und der Biologe da drinnen sein, dann waren sie viel weiter unten, aber wir hatten kein Interesse, ihnen zu folgen.« Sie kehrten zum Basislager zurück und fanden dort die Leiche des Biologen, die aus zahllosen Stichwunden blutete. Der Linguist hatte einen Zettel mit einer schlichten Botschaft hinterlassen. »Bin zurück zum Tunnel. Sucht nicht nach mir.« Ich fühlte einen seltsamen, schmerzlichen Stich voller Sympathie für einen gefallenen Kollegen. Zweifellos hatte der Biologe versucht, den Linguisten zur Vernunft zu bringen. Jedenfalls sagte ich mir das. Vielleicht hatte er auch versucht, den Linguisten zu töten. Aber der Linguist war eindeutig schon in die Fänge des Turms geraten, der Worte des Crawlers . Inzwischen wusste ich, dass es wohl für jeden zu viel gewesen wäre, die Worte in ihrer ureigenen Bedeutung zu verstehen.
Als der Vermesser und mein Mann wieder beim Turm ankamen, dämmerte es bereits. Warum, geht aus den Tagebuch-Einträgen nicht hervor – es gab jetzt Lücken, die sich über einige Stunden erstreckten, und keine spätere Zusammenfassung. Aber im Laufe der Nacht sahen sie eine grausige Prozession, die sich auf den Turm zubewegte: Sieben der acht Teilnehmer der Expedition, inklusive der Doppelgänger meines Mannes und des Vermessers. »Und hier, direkt vor mir: ich selbst . Ich ging ganz steif. Ich hatte eine ausdruckslosen Blick. Ich war so offensichtlich nicht ich selbst … und doch war ich es. Der Vermesser und ich waren schockiert und wie gelähmt. Wir haben nicht versucht, sie aufzuhalten. Irgendwie schien es auch gar nicht möglich zu sein, uns selbst aufzuhalten – und ich lüge nicht wenn ich sage, wir hatten Angst. Wir konnten nichts anderes tun als zuzusehen, bis sie verschwunden waren. Hinterher hatte ich kurz den Eindruck, alles zu verstehen, alles, was passiert war. Wir waren die Toten. Wir waren Gespenster, die in einer Geisterlandschaft umherirrten, und obwohl wir es nicht wussten, lebten Menschen hier ihr normales Leben, hier war alles so, wie es sein sollte … nur konnten wir den Schleier nicht durchdringen, der uns von allem trennte.«
Mein Mann schüttelte dieses Gefühl nur langsam ab. Sie warteten stundenlang in den Bäumen jenseits des Turms, um zu sehen, ob ihre Doppelgänger wieder auftauchten. Sie stritten sich darüber, was zu tun sei, sollte das passieren. Der Vermesser wollte sie töten. Mein Mann wollte sie befragen. Beide standen noch immer so unter Schock, dass keinem des Fehlen des Psychologen auffiel. Während sie noch warteten, ging ein zischendes Geräusch vom Turm aus, und ein Lichtstrahl schoss hinauf in den Himmel, um abrupt wieder abzubrechen. Aber von den Doppelgängern tauchte keiner wieder auf, und so gingen die beiden Männer schließlich zurück ins Lager.
An diesem Punkt beschlossen sie, getrennte Wege zu gehen. Der Vermesser hatte alles ausgeführt, was seinem Auftrag entsprach, und wollte so schnell wie möglich zurück zur Grenze. Mein Mann lehnte das ab, weil er beim Lesen der Tagebücher den Verdacht geschöpft hatte, dass »die Vorstellung, denselben Weg zurückzugehen, auf dem wir gekommen sind, vielleicht eine Falle ist.« Mein Mann war im Laufe der letzten Tage, während der sie auf kein Hindernis gestoßen waren, das ihnen den Weg weiter nach Norden versperrt hätte, »misstrauisch geworden, was diese Vorstellung einer Grenze betrifft.« Allerdings konnte er »dieses intensive Gefühl« nicht in eine schlüssige Theorie fassen.
In diesen unmittelbaren Bericht über den Verlauf der Expedition waren immer wieder persönliche Beobachtungen gestreut, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Außer dieser einen Passage, die sowohl Area X als auch unsere Beziehung betrifft:
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