Die Ungeheuerlichkeit dieser Erfahrung im Verbund mit dem Herzschlag und der Lautstärke der Geräusche beim pausenlosen Schreiben erfüllte mich so sehr, dass es keinen Raum mehr für mich selbst gab. Dieser Augenblick, auf den ich vielleicht unbewusst mein ganzes Leben lang gewartet hatte – dieser Augenblick der Begegnung mit dem Allerschönsten, dem Allerschrecklichsten, auf das ich je treffen würde – ging über mein Fassungsvermögen. Welch unzureichende Aufzeichnungsmöglichkeiten hatte ich, welch ungenügenden Namen hatte ich gewählt, für es – den Crawler . Zeit und nochmal Zeit war nichts als Treibstoff für die Worte, die dieses Ding seit wer weiß wie lange zu welchem Zweck auch immer auf die Wand geschrieben hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich starr auf der Schwelle stand und den Crawler beobachtete. Ich hätte dort für immer stehenbleiben können und nie gemerkt, wie schrecklich schnell ein paar Jahre verstreichen.
Aber was dann?
Was kommt nach Offenbarung und Ohnmacht?
Entweder der Tod oder ein langsames und verlässliches Wiederzusichkommen. Die Rückkehr in die reale Welt. Nicht, dass ich mich an die Existenz des Crawlers gewöhnt hatte, aber ich war an einem Punkt – ein einziger, winziger Moment –, an dem ich erneut begriff, dass der Crawler ein Organismus war. Ein komplexer, einmaliger, komplizierter, Ehrfurcht gebietender, gefährlicher Organismus. Vielleicht nicht zu erklären. Vielleicht waren meine Sinne – oder meine Wissenschaft oder mein Intellekt – zu begrenzt, um ihn ganz zu erfassen, aber ich war noch immer der festen Überzeugung, dass ich einer Art Lebewesen gegenüberstand, eines, das mit meinen Gedanken Mimikry betrieb. Denn selbst dann glaubte ich, dass es möglicherweise diese unterschiedlichen Impressionen von ihm, die sich in meinem Kopf gesammelt hatten, aufnahm und sie zurück auf mich projizierte, als eine Art Camouflage. Um der Biologin in mir einen Strich durch die Rechnung zu machen, um das bisschen Logik, das mir noch verblieben war, zu enttäuschen.
Mit einer Anstrengung, die meine Glieder aufstöhnen ließ, einer Luxation der Knochen, schaffte ich es, dem Crawler den Rücken zu kehren.
Schon diese einfache, qualvolle Handlung war so eine Erleichterung, dass ich die gegenüberliegende Wand in all ihrer kühlen Härte umarmte. Ich schloss die Augen – was brauchte ich ein Sehvermögen, wenn alles, was es mir zeigte, Betrug war? – und trat im Krebsgang den Rückweg nach oben an, spürte noch immer das Licht in meinem Rücken. Spürte die Musik, die von den Worten ausging. Die Waffe, die ich völlig vergessen hatte, grub sich in meine Hüfte. Schon der Gedanke an eine Waffe erschien mir jetzt ebenso jämmerlich und sinnlos wie das Wort Probe . Beides implizierte, dass man etwas anvisierte. Aber was gab es anzuvisieren?
Ich war nur einen oder zwei Schritte weit gekommen, als ich die zunehmende Hitze und etwas Schweres und eine Art Feuchtigkeit spürte, die an mir zerrten und züngelten, als würde sich das Licht in ein Meer verwandeln. Ich hatte wohl geglaubt, entkommen zu können, aber dem war nicht so. Als ich nach nur einem weiteren Schritt zu würgen anfing, verstand ich, dass das Licht sich tatsächlich in ein Meer verwandelt hatte. Und obwohl ich nicht wirklich unter Wasser war, fing ich an zu ertrinken.
Die Verzweiflung, die in mir aufstieg, war die schrecklich formlose Panik eines Kindes, das in einen Brunnen gefallen war und, während sich seine Lungen mit Wasser füllten, zum ersten Mal merkte, dass es sterben konnte. Sie hörte einfach nicht auf, war nicht zu überwinden. Ein grünblauer, von Funken erleuchteter Ozean umspülte mich. Und ich ertrank einfach immer weiter und kämpfte dagegen an, bis irgendein Teil von mir verstand, dass ich bis in alle Ewigkeit ertrinken würde. Ich stellte mir vor, wie ich von den Felsen taumelte, fiel und von der Brandung zerschmettert wurde. Tausende Meilen weiter wieder angeschwemmt wurde, unkenntlich, in dieser oder jenen Form, doch die Erinnerung an diesen schrecklichen Augenblick noch immer lebendig.
Dann meinte ich zu spüren, wie sich in meinem Rücken Hunderte von Augen auf mich richteten und mich anstarrten. Ich war ein Etwas in einem Swimmingpool, beobachtet von einem grässlichen kleinen Mädchen. Ich war die Maus auf einem leeren Grundstück, die ein Fuchs aufgespürt hatte. Ich war die Beute, die der Seestern endlich erreicht hatte und hinab ins Gezeitenbecken zerrte.
In irgendeinem wasserdichten Teil von mir ließ mich das Leuchten wissen, ich müsse akzeptieren, dass ich dieses Stadium nicht überleben würde. Ich wollte leben – ich wollte es wirklich. Aber ich konnte nicht mehr. Ich konnte nicht mal mehr atmen. Also öffnete ich den Mund und hieß das Wasser, die reißende Flut willkommen. Nur dass es kein richtiges Wasser war. Und die auf mich gerichteten Augen waren keine Augen. Es war der Crawler , der mich hier festgenagelt hatte, das verstand ich jetzt, ich hatte ihn in mich hinein gelassen, seine ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf mich gerichtet und ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht denken, war hilflos und allein.
Ein tosender Wasserfall brach über meinen Verstand herein, aber das Wasser bestand aus Fingern, aus Hunderten von Fingern, die sich gegen meinen Hals pressten und unter die Haut bohrten und dann durch den Knochen die Wirbelsäule hinauf in meinen Hinterkopf und in mein Gehirn … und dann ließ der Druck nach, obwohl der Eindruck einer grenzenlosen Macht blieb, und wenn ich auch weiter ertrank, kam für eine Weile doch eine eisige Ruhe über mich, und durch die Ruhe sickerte ein gewaltiges blaugrünes Licht. Irgendetwas brannte in meinem Kopf, ich konnte es riechen, rote und gelbe Blitze zuckten, und dann kam der Augenblick, an dem ich zu schreien anfing, während mein Schädel zu Staub zerfiel und sich Stäubchen für Stäubchen wieder zusammensetzte.
Ein Feuer wird kommen, das deinen Namen kennt und im Angesicht der alles erdrückenden Frucht wird seine dunkle Flamme dich vollständig in Besitz nehmen .
Eine größere Qual habe ich nie erlebt – es war, als würde eine Metallstange wieder und wieder in mich hineingestoßen, und dann begann sich der Schmerz wie eine zweite Haut bis an die Grenzen meiner Körperkontur auszubreiten. Alles wurde in Rot getaucht. Ich wurde ohnmächtig, kam wieder zu Bewusstsein, wurde ohnmächtig, schnappte immer wieder mit weichen Knien nach Luft, sucht verzweifelt Halt an der Wand. Während ich schrie, knackte etwas in meinem Kiefer. Ich glaube, ich hörte eine Minute lang auf zu atmen, aber das Leuchten in mir schenkte dieser Unterbrechung keine Beachtung. Es versorgte mein Blut einfach weiter mit Sauerstoff.
Dann war dieser grausame Übergriff vorbei, verschwunden, und damit das Gefühl des Ertrinkens und das sämige, mich umschließende Meer. Ich bekam einen Stoß , der Crawler stieß mich zur Seite, die Treppe hinunter. Ich war erledigt, zerschrammt und zerknautscht. Da nichts mir Halt bot fiel ich wie ein Sack, zerbröckelte vor etwas, das es nie hätte geben, das mich nie hätte übermannen dürfen. Ich sog die Luft mit tiefen, bebenden Atemzügen in mich hinein.
Aber dort konnte ich nicht bleiben, noch immer in seinem Blickfeld. Ich fühlte mich wie ausgeweidet, meine Kehle brannte, und so tastete ich mich auf Händen und Füßen in das Dunkel jenseits des Crawler , suchte nach einem Fluchtweg, von einem blinden, panischen Impuls getrieben, aus seinem Blickfeld zu kommen.
Erst als das Licht hinter mir an Kraft verlor, erst als ich mich sicherer fühlte, ließ ich mich wieder zu Boden sinken. Dort lag ich eine lange Zeit. Offensichtlich war ich für den Crawler jetzt lesbar. Offensichtlich bestand ich aus Worten, die er verstehen konnte, anders als bei der Anthropologin. Ich fragte mich, wie lange meine Zellen wohl in der Lage wären, ihre Transformation vor mir zu verbergen. Ich fragte mich, ob dies der Anfang vom Ende war. Aber am stärksten war das Gefühl der Erleichterung, dass ich dieses Spießrutenlaufen überstanden hatte, wenn auch nur knapp. Das Leuchten in mir hatte sich eingeigelt, traumatisiert.
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