Given hörte nicht auf Pop. Ende des Winters, im Februar, beschloss er, mit den Weißen Jungs oben im Kill jagen zu gehen. Er sparte Geld und kaufte sich einen schicken Bogen. Er hatte mit Michaels Cousin gewettet, dass er mit Pfeil und Bogen schneller einen Bock erlegen könnte, als der mit einem Gewehr. Michaels Cousin war ein kleiner Typ mit einem schielenden Auge, der Cowboystiefel und Bier-T-Shirts wie eine Uniform trug; er war der Typ, der mit Highschool-Kids rumhing und mit Schülerinnen ausging, obwohl er schon Anfang dreißig war. Given trainierte mit Pop. Übte stundenlang hinten auf dem Grundstück schießen, obwohl er lieber Hausaufgaben hätte machen sollen. Fing an, genauso aufrecht wie Pop zu gehen, jede Faser in ihm so straff gespannt wie sein Bogen, bis er schließlich mit dem Pfeil genau in die Mitte der zwischen zwei Kiefern gespannten Leinwand traf, die fünfzig Meter entfernt war. Er gewann seine Wette in der Morgendämmerung eines kalten, bedeckten Wintertages, teils weil er richtig gut war, teils weil alle anderen, die ganzen Jungs, mit denen er Football spielte, in der Umkleide raufte und auf dem Spielfeld bis zum Umfallen gemeinsam schwitzte, an diesem Morgen schon zum Frühstück statt Orangensaft Bier getrunken hatten, weil sie glaubten, Given würde verlieren.
Damals kannte ich Michael noch nicht; ich hatte ihn ein paar Mal in der Schule gesehen, mit seinen dicken blonden Locken, die fast schon verfilzt aussahen, weil er sie nie kämmte. Seine Ellbogen, Hände und Füße waren aschfahl. Michael ging an dem Morgen nicht mit zum Jagen, weil er keine Lust hatte, so früh aufzustehen, aber er hörte davon, als sein Onkel mitten am Tag zu Big Joseph kam, während der Cousin langsam wieder nüchtern wurde und ein Gesicht machte, als habe er etwas Faules gerochen, eine vergiftete Ratte, die die Winterkälte ins Haus getrieben hatte, und der Onkel sagte: Er hat den Nigger erschossen. Dieser verdammte Blödmann hat den Nigger erschossen, weil er ihn besiegt hat. Und dann, weil Big Joseph jahrelang Sheriff gewesen war: Was machen wir jetzt? Michaels Mama sagte, sie sollten die Polizei rufen. Big Joseph beachtete sie gar nicht, und sie fuhren alle zusammen zurück in den Wald, liefen eine Stunde lang tief hinein und fanden Given, der ausgestreckt und reglos auf den Kiefernnadeln lag, in einer Pfütze aus dunklem Blut. Um ihn herum überall Bierdosen, die die Jungs hastig weggeworfen hatten, als sie abgehauen waren, nachdem der Cousin mit dem Schielauge gezielt und abgedrückt und der Schuss die Stille zerrissen hatte. Sie waren in alle Richtungen geflohen, wie die Kakerlaken vor dem Licht. Der Onkel hatte seinem Sohn eine runtergehauen, und dann noch eine. Du verdammter Idiot, hatte er gesagt. Es ist nicht mehr so wie früher. Und der Cousin hatte die Hände gehoben und gemurmelt: Er hätte verlieren sollen, Pa. Hundert Meter weiter lag der Bock auf der Seite, einen Pfeil im Hals, einen zweiten in der Flanke, genauso kalt und steif wie mein Bruder. Ihr Blut schon fast geronnen.
Jagdunfall , sagte Big Joseph, als sie wieder zu Hause waren und am Tisch saßen, das Telefon in der Hand, ehe der Vater des Cousins, genauso klein wie sein Sohn, aber mit synchronen Augen, die Polizei anrief. Jagdunfall , sagte der Onkel am Telefon, während das Licht der kühlen Mittagssonne durch die Vorhänge schnitt. Jagdunfall , sagte der schieläugige Cousin vor Gericht, das gute Auge auf Big Joseph gerichtet, der hinter dem Anwalt des Jungen saß, mit einer Miene so reglos und hart wie ein Porzellanteller. Aber sein schwaches Auge schweifte zu Pop und mir und Mama herüber; wir saßen alle nebeneinander hinter dem Staatsanwalt, einem Staatsanwalt, der sich auf einen Deal einließ, bei dem der Cousin zu drei Jahren in Parchman und zwei Jahren Bewährung verurteilt wurde. Ich frage mich, ob Mama wohl ein Summen von dem kranken Auge des Cousins vernommen hat, in seinem Umherwandern Reue gespürt hat, aber sie schaute nur durch ihn hindurch, während ihr ununterbrochen die Tränen über die Wangen liefen.
Ein Jahr nach Givens Tod pflanzte Mama einen Baum für ihn. An jedem Todestag einen , sagte sie mit vor Kummer brechender Stimme. Wenn ich lang genug lebe, wird hier ein Wald stehn, sagte sie, ein raunender Wald. Der von Wind und Blütenstaub und Schädlingsbefall erzählt. Dann schwieg sie, setzte den Baum in die Mulde und fing an, die Erde um die Wurzeln festzuklopfen. Ich hörte sie durch ihre Fäuste: Die Frau, die Marie-Therese unterrichtet hat – die konnte sehen. Alte Frau, sah fast Weiß aus. Tante Vangie. Sah die Toten. Marie-Therese hatte die Gabe nich. Ich auch nich. Sie grub ihre roten Fäuste tief in die Erde. Ich träum davon. Ich träum davon, Given zu sehn, wie er in seinen Stiefeln zur Tür reinkommt. Aber dann wach ich auf. Und sehe nichts. An der Stelle fing sie an zu weinen. Dabei weiß ich, dass es da is. Gleich hinter dem Schleier. Sie kniete so lange dort auf dem Boden, bis ihre Tränen versiegt waren, dann richtete sie sich auf und wischte sich übers Gesicht, beschmierte es überall mit Blut und Erde.
Vor drei Jahren, nach dem Koksen, habe ich Given zum ersten Mal gesehen. Es war nicht meine erste Line, aber Michael war gerade ins Gefängnis gekommen. Ich hatte mir angewöhnt, es oft zu tun; jeden zweiten Tag beugte ich mich über einen Tisch, schob Lines zusammen und inhalierte. Ich weiß, das war falsch: Ich war schwanger. Aber ich war wehrlos gegen das Verlangen, zu spüren, wie mir der Koks in die Nase stieg, direkt ins Gehirn schoss und allen Kummer und alle Verzweiflung über Michaels Abwesenheit wegbrannte. Als Given zum ersten Mal auftauchte, war ich auf einer Party im Kill, und mein Bruder kam einfach hereinspaziert, ohne Kugellöcher in der Brust oder im Hals, unversehrt und langgliedrig wie immer. Aber nicht grinsend. Er trug kein Hemd, und sein Nacken und Gesicht waren gerötet, so als wäre er gerannt, aber seine Brust war reglos wie Stein. So reglos wie er gewesen sein muss, nachdem Michaels Cousin ihn erschossen hatte. Ich dachte an Mamas kleinen Wald, an die zehn Bäume, die sie in einer immer größer werdenden Spirale bislang gepflanzt hatte, einen an jedem Todestag. Ich starrte Given an und knirschte mit den Zähnen, bis mein Zahnfleisch wund wurde. Ich verschlang ihn mit meinen Blicken. Er versuchte, mit mir zu reden, aber ich verstand ihn nicht, und er wurde immer frustrierter. Er setzte sich vor mir auf den Tisch, direkt auf den Spiegel mit dem Koks darauf. Ich konnte mich nicht mehr runterbeugen, ohne mit dem Gesicht in seinem Schoß zu landen, also saßen wir nur da und starrten uns an, und ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, damit meine Freunde nicht dachten, ich hätte den Verstand verloren. Sie grölten die Countrysongs mit, knutschten unbekümmert wie Teenager in dunklen Ecken oder liefen mit untergehakten Armen in Zickzackreihen nach draußen in die Dunkelheit. Given guckte mich an wie damals, als wir klein waren und ich die neue Angelrute zerbrochen hatte, die er gerade erst von Pop bekommen hatte: mordlüstern. Als ich runterkam, rannte ich fast zu meinem Auto. Ich zitterte so stark, dass ich kaum den Schlüssel ins Zündschloss bekam. Given stieg neben mir ein, auf den Beifahrersitz, wandte den Kopf und starrte mich mit steinerner Miene an. Ich höre auf, sagte ich. Ich schwöre, ich werde es nie wieder tun. Er fuhr mit mir bis nach Hause, und ich ließ ihn im Auto sitzen, während die Sonne aufging und den Rand des Horizonts in weiches Licht tauchte. Ich schlich in Mamas Schlafzimmer und betrachtete sie im Schlaf. Staubte ihren Altar ab: ihren Rosenkranz, der über der Marienfigur in der Ecke hing, machte mich an den blaugrauen Kerzen, den Flusskieseln, den drei getrockneten Rohrkolben und der einzelnen Yamswurzel zu schaffen. Als ich Givennicht-Given zum ersten Mal sah, erzählte ich meiner Mama nichts davon.
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