Maslows Theorie der Bedürfnisse verband sich in den frühen siebziger Jahren mit dem aufkeimenden Umweltbewusstsein. Aus dieser Kombination ging ein neues politisches und kulturelles Konzept hervor, das seitdem zum festen Bestandteil des Nachhaltigkeitsdenkens gehört: Quality of life – Lebensqualität .
Der Brundtland-Bericht griff das neue Denken auf. Wenn die Bedürfnisse der jetzigen Generation gegen die der zukünftigen Generationen abgewogen werden, sind dort stets die basic needs im Sinne Maslows gemeint, nicht etwa der »Bedarf« einer Überflussgesellschaft. Nachhaltige Entwicklung erfordert es , die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und die Möglichkeit, sich den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen, auf alle auszuweiten.
Die Imagination an die Macht
John Lennons und Yoko Onos Song Imagine entstand im Sommer 1971 im Landhaus des Paares, Tittenhurst Park in Ascot, an der westlichen Peripherie von London. In diesem aristokratischen Ambiente hat das Künstlerehepaar den Song geschrieben und in einem dreiminütigen Videoclip inszeniert und zelebriert. Ein Mausklick, und er ist verfügbar.
Wenn das Piano mit den Anfangstakten beginnt, sieht man die beiden unter dem alten Baumbestand eines Parks im Nebel. Die Kamera zeigt sie von hinten. Ein junges Paar, schwarz gekleidet, Schulter an Schulter, Hand in Hand. Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try… Wenn die Stimme einsetzt, kommen sie ins Offene, gehen auf die schneeweiße Hauptfassade eines georgianisch-klassizistischen Herrenhauses zu. No hell below us / Above us only sky… Lennon legt den Arm um die Schulter seiner Frau. Das Paar erreicht das von zwei Säulen verzierte Portal, hält einen Moment inne. Ein Schild kommt ins Bild: This is not here . Wir betreten, so verstehe ich diese Botschaft, nicht ein aristokratisches Herrenhaus, sondern einen Bezirk unseres Bewusstseins: den Sitz der Vorstellungskraft, den inneren Palast, wo die Träume von einer besseren Welt ihren Ursprung haben. Imagine all the people / Living for today… singt die Stimme, während die beiden im Eingang verschwinden. Ein abgedunkelter, halbrunder Raum. Allein durch die Schlitze der Vorhänge fällt etwas Licht. Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do … Yoko Ono, nun in weißem knöchellangem Kleid, öffnet den ersten Vorhang, lässt Tageslicht herein. Nothing to kill or die for / And no religion too … Der Blick fällt auf den an einem weißen Steinway-Flügel sitzenden John Lennon. Imagine all the people / Living life in peace… Von links nach rechts die Fensterfront abschreitend öffnet Yoko Ono Vorhang um Vorhang, flutet den Raum mit Sonnenlicht. Imagine no possessions / I wonder if you can … Lennons feierlicher Gesichtsausdruck kommt groß ins Bild. Sein Blick wechselt zwischen Klaviertasten und Kameraauge. No need for greed or hunger / A brotherhood of man. Das frische Grün des Gartens dringt mit dem Licht in den Raum, während Yoko den nun hellen Raum durchschreitet und neben ihrem Gatten Platz nimmt. Imagine all the people / Sharing all the world… Das Paar ist hinter dem Flügel in der Totalen zu sehen. Ein weißes Stirnband bändigt ihr langes pechschwarzes Haar. Ihr Blick richtet sich nach innen, während er die letzte Strophe beginnt: You may say I’am a dreamer / But I’m not the only one … Sie blicken sich in die Augen. I hope someday you’ll join us / And the world will live as one. Ende des Liedes. Draußen zwitschert ein Vogel. Die Augen leuchten. Ein langer Kuss. Ende des Videos bei 3:14.
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Imagine wirkte als Hymne einer Generation. Warum? Zum einen war es die Melodie, vom Piano sostenuto gespielt und durch ein raffiniert-schlichtes Streicherarrangement untermalt, von Lennons kraftvoller Stimme gesungen. Der Komponist sprach selbstironisch vom »sugar-coat«, vom Zuckerguss des Songs. Die eingängige und eindringliche Musik verband sich organisch mit der revolutionären Botschaft des Textes. »Ein antireligiöser, antinationalistischer, antikonformistischer, antikapitalistischer Song«, sagte Lennon in einem Interview, »praktisch das Kommunistische Manifest.« Vor allem aber nahm der Song den Zeitgeist auf. Er formuliert die kulturrevolutionäre Gewissheit, dass eine andere Welt möglich ist.
Die Zukunft ist nie die bruchlose Fortsetzung der Gegenwart. Sie wird immer neu gemacht, freilich mit den geistigen und spirituellen Ressourcen der Vergangenheit. Jede schimmernde Perle wächst in einer harten, grauen Muschelschale heran. Das Neue kann nur im Schoß des Alten entstehen. Was jedoch immer wieder erstaunt: In jeder Renaissance, in jeder Epoche des Aufbruchs, erscheinen in verwandelter Gestalt die Bilder, die Grundideen und das Vokabular der Nachhaltigkeit.
VIER
URTEXTE
Sonnengesang
Laudato si, mi signore, cun tucte le tue creature, / spetialmente messor lo frate sole, / lo qual’è iorno, et allumini noi per loi … Gelobet seist Du, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen, vor allem dem Herrn Bruder Sonne, der den Tag heraufführt und uns durch sich erhellt.
Der fromme Lobpreis versetzt uns in die Welt der mittelalterlichen Klöster und in die Zeit der Kathedralen. Genauer gesagt, in die Parallelwelt der Einsiedeleien auf durchsonnten Berghöhen, der endlosen staubigen Landstraßen Mittelitaliens, der Dorfarmut und ihrer barfüßigen Propheten. Canticum Solis, der Sonnengesang des Franziskus von Assisi, die mittelalterliche Ode an die Schöpfung, ist wie kein anderer Text aus dieser Epoche in unserem kulturellen Gedächtnis präsent. Sein »ökologischer« Gehalt ist schon häufig bemerkt worden. Der Sonnengesang enthält aber auch das begriffliche Grundgerüst der Nachhaltigkeit. Um in dem alten Erbe den modernen Diskurs wiederzuerkennen, muss man freilich zu den Quellen gehen.
Assisi liegt auf einem Hügel. Nähert man sich zu Fuß, baut sich die Stadt dramatisch vor einem auf: die wuchtige Klosteranlage auf dem westlichen Bergsporn, die rosig schimmernden Häuserfronten der Altstadt, die Ruine der Stauferburg auf der Hügelkrone, das steil ansteigende, bewaldete Massiv des Monte Subasio im Osten. Die Stadt in Umbrien, dem grünen Herzen Italiens, ist ein spirituelles Zentrum des alten Europa.
Dem »genius loci« ist man an zwei Plätzen außerhalb der Stadtmauern besonders nahe. Durch die Porta dei Cappucini, das höchstgelegene Stadttor, gelangt man auf ein zypressengesäumtes Sträßchen, dann auf einen Waldpfad, der den Rücken des Monte Subasio emporsteigt. Zwischen zwei felsigen Hängen liegt dort oben die Einsiedelei Santuario delle Carceri . Sie diente Franziskus als Rückzugsort. Ein Steinbett mit hölzerner Kopfstütze, auf dem er geschlafen haben soll, ist in dem Raum erhalten. In dem Steineichenwald oberhalb stößt man auf Grotten, in denen er gefastet und meditiert hat. Die alte Eiche an der steinernen Brücke nahebei ist der Baum, wo er der Legende nach den Vögeln gepredigt hat.
Der andere magische Ort: die schlichte, von Olivenhainen und Zypressen umgebene Klosteranlage von San Damiano am südlichen Abhang des Hügels, auf dem Assisi thront. Das damals baufällige Gebäude diente dem jungen Franziskus und seiner noch kleinen Schar als erste Unterkunft. Mit eigenen Händen hat er es instand gesetzt und dann seiner Anhängerin und Gefährtin Klara überlassen. Im Gärtchen ihres Klosters baute ihm Klara »aus Gesträuch und Rosenzweigen« ein Zelt, als er im Herbst 1225, schon auf die fünfzig zugehend, am Ende seiner Kräfte, von Augenschmerzen gepeinigt, zur Ruhe kommen wollte. Ein Jahr vor seinem Tod erlebt Franziskus in San Damiano einen »strahlenden Sonnenaufgang in der Seele«, wie der französische Franziskaner Eloi Leclerc schreibt. Im Zustand der Entrückung dichtet Franziskus seine Laudes creaturarum , den Sonnengesang . Codex 338 der Stadtbibliothek von Assisi, datiert mit 1279, ist die älteste erhaltene Handschrift. Ihre Sprache ist das »Volgare«, die frühitalienische Volkssprache, die sich schon deutlich vom lateinischen Ursprung entfernt hat.
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