Die Filmemacherin Loretta Walz gehört an hervorgehobener Stelle zu diesen Journalistinnen. Sie verbindet die Vorzüge ihrer Zunft mit den Vorzügen einer Geschichtswissenschaft, die Erfahrungen ernst nimmt. Sie hat sich nie darauf eingelassen, Aufnahmen von Zeitzeugen und besonders -zeuginnen, vor allem des Nationalsozialismus, als einfache Illustrationen zu aus Akten oder Vorurteilen deduzierten Theorien heranzuziehen. Sie hat selbst dann lebensgeschichtliche Interviews geführt, wenn sie wusste, dass sie nur Ausschnitte daraus für ein bestimmtes Thema verwenden würde. Damit hat sie nicht nur sich – mit großem persönlichen und finanziellen Einsatz – den Blick geöffnet, um ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Erinnerung im Lichte eines gesamten Lebens und dessen Wechselfällen interpretieren zu können, sondern auch künftigen Forschern und Forscherinnen umfangreiches Interpretationsmaterial an die Hand gegeben.
Loretta Walz hebt sich damit – das darf ich nach mehr als fünfzehn Jahren der Zusammenarbeit sagen – wohltuend ab von jenen Journalisten, die Zeitzeugen unabhängig von ihrem sonstigen Verhalten zitieren oder gar ohne jeden anderen Bezug als die eigentlichen Verkünder historischer Wahrheiten auftreten lassen, etwa Teilnehmer am militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 ohne deren vorheriges Verhalten in der militärischen Entwicklung des Nationalsozialismus. Sie nimmt damit auch die Augenzeuginnen ernster als jene, die sie politisch oder medial instrumentalisieren oder gar heroisieren. Loretta Walz hat dies im Laufe ihrer Arbeit mehr und mehr vermieden, auch wenn ihre besonderen Sympathien deutlich werden. Die Zeitzeuginnen werden nicht zu widerspruchsfreien, hehren Heldinnen der Geschichte zurechtgemodelt; Loretta Walz belässt ihnen ihre Ängste und Beschränkungen, ihre Fehler und Schuldgefühle, auch und gerade dann, wenn sie ihre Stärken, ihren Lebensmut und ihre Hoffnungen inmitten von Schreckenserfahrungen darstellt.
Auch das einfache Mitleiden mit diesen Frauen kann eine Gefahr sein, indem man sie nur als Opfer begreift, ohne die anderen Aspekte ihres Lebens zu sehen, die trotz dieser KZ-Erlebnisse in ihrer weiteren Biographie eine Rolle spielten. Gerade in diesen Teilen der Gespräche, die Loretta Walz aufgenommen hat, ist das weibliche Element besonders spürbar: die geringere Selbstinszenierung der »heroischen« Seiten ihrer Gesprächspartnerinnen, ihre Lebensfreude in einem »anderen Leben« mit seinen vielfältigen Facetten, aber auch die offene Trauer, wenn der »Ravensbrücker Teil« ihrer Erfahrungen allzu dominant wurde und in ihr neu gewonnenes Leben zerstörerisch eingriff; die Zurückhaltung in der Verurteilung von Schwächeren, die Bescheidenheit in ihrem Mut und ihr Humor.
Die Sammlung, um die es in diesem Buch geht, ist einzigartig: Seit 1980 hat Loretta Walz lebensgeschichtliche Interviews mit früheren »Ravensbrückerinnen« geführt. Inzwischen sind es mehr als 200 Gespräche geworden. Das ist für sich genommen bereits einmalig. Hinzu kommt, dass ihre Sammlung die Zeit, in der die Erinnerungen erzählt wurden, doppelt spiegelt: zum einen durch die Darstellung der Erlebnisse ihrer Interviewpartnerinnen in ihren kulturellen, familiären und politischen Umfeldern; zum anderen durch die eigene, nicht gleich gebliebene Haltung der Person Loretta Walz als Interviewerin und Filmemacherin. Auch sie hat sich verändert im Laufe der Beschäftigung mit diesem Thema, einmal durch diese Arbeit selbst, aber auch durch die Veränderungen in der »großen Politik« und in ihrem persönlichen Leben. Ihr Blick ist im Laufe der Jahre weiter geworden, hat sich den Widersprüchen im Leben ihrer Partnerinnen ebenso gestellt wie ihren eigenen Veränderungen.
Auch die von ihr befragten Frauen mussten ihre Erinnerungen angesichts der unterschiedlichen späteren Sichtweisen in verschiedenen politischen Systemen behaupten oder neu überdenken, zunächst in Ost und West nach dem Krieg, dann nach der großen Wende in ihren Heimatländern Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht nur eine besondere Geschichte der Bundesrepublik und der DDR, die hier zum Vorschein kommt, sondern ebenso Osteuropas nach der Wende von 1989. Damit ist diese Sammlung auch für die historische Zunft ein besonderer Gewinn, weil sie deutlich macht, inwieweit und wie die Erinnerungen der Interviewpartnerinnen von der jeweiligen Zeit mit ihren politischen Verarbeitungs- und Interpretationsangeboten beeinflusst wurden.
Die Interviewpartnerinnen sind alt geworden, stehen vor ihrem Tod und müssen befürchten, dass ihre Erinnerungen nicht mehr ernst genommen werden oder dass sich eine neue Zeit ihre Schilderungen verändert aneignet, weil man ihnen nicht glauben mag. Auch diese Sorge spürt man in den jüngeren Interviews. Aber es ist nicht nur die Melancholie der Vergänglichkeit, die einen anweht beim Ansehen und Anhören der Gespräche. Es ist auch die Hoffnung dieser Frauen, dass ihre Erlebnisse, ihr Beispiel und ihr Überleben, in dem sie – unter anderem in dieser Sammlung – Zeugnis von dieser Zeit ablegen konnten, nicht umsonst waren, sondern als Warnung für neue Generationen mit eigenen Schrecken dienen können, eventuell sogar als Beispiel, wie man sich im unerwartet Furchtbaren behaupten kann und muss. Die »Ravensbrückerinnen« wollen nicht als Heldinnen instrumentalisiert, sondern als Menschen mit allen Ängsten wahrgenommen werden, auch mit den schwierigen Situationen, in denen sie sich zwischen Widerstand, Anpassung und Kompromiss zu entscheiden hatten. Die Hoffnung allerdings, dass Kompromiss und Anpassung vielleicht doch eine positive Wirkung gegen staatlichen Terror, Rassismus, Gewalt und Brutalität haben könnten, hatte sich fast immer als vergebens erwiesen.
Eine private Bemerkung zum Schluss: Ich freue mich persönlich außerordentlich, dass Loretta Walz einen Teil ihrer Arbeiten unter unserem »Dach«, dem des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen, machen, ihre Ravensbrück-Sammlung erweitern und mit uns viele Filme produzieren konnte.
Alexander von Plato
Leiter des Instituts für Geschichte und Biographie
der Fernuniversität Hagen

Filmaufnahmen im Lager Ravensbrück, 1994
Die in diesem Buch vorgestellten Biografien sind Teil einer in fünfundzwanzig Jahren entstandenen Sammlung von lebensgeschichtlichen Videointerviews mit Überlebenden der drei Frauen-Konzentrationslager Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück.
Begonnen habe ich diese Interviews Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, nachdem ich die ersten Frauen aus dem Kreis der ›Lagergemeinschaft Ravensbrück der Bundesrepublik Deutschland‹ – dem Zusammenschluss der Überlebenden der Frauen-KZ – kennen gelernt hatte.
Ein Vierteljahrhundert ist ein vergleichsweise langer Zeitraum für ein derartiges Sammlungsprojekt und führt zu einigen Besonderheiten und Problemen in der Projektarbeit. So war meine Arbeit von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen dieser Zeit geprägt und von einem stetigen Zuwachs an immer neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Erworbenes Wissen ermöglichte vertiefende Fragen und schuf größere Zusammenhänge. Die Überlebenden der Konzentrationslager wiederum erfuhren in diesen fünfundzwanzig Jahren sehr unterschiedliches Interesse an ihren Erinnerungen, was die Art und Weise sowie die Inhalte ihrer Erzählung beeinflusste.
Moringen, Lichtenburg, Ravensbrück
Ab Juni 1933 wurden in ›Schutzhaft‹ genommene Frauen aus dem deutschen Reichsgebiet im früheren ›Werkhaus‹ der Kleinstadt Moringen bei Göttingen inhaftiert. Als dieses erste reine Frauen-KZ zu klein geworden war, wurden die Häftlinge im März 1938 in das KZ Lichtenburg an der Elbe gebracht. Im Mai 1939 erfolgte ihre Verlegung in das neu errichtete Frauen-KZ Ravensbrück, achtzig Kilometer nördlich von Berlin.
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