Dadurch, dass die menschliche Verständigung viel differenzierter und komplexer ist als bei Tieren oder Pflanzen, lässt dies eine enorme schöpferische Kreativität zu. Wenn sich zwei Wesen nur in immer gleichen Ritualen verständigen können, wie beim berühmten »Tanz der Bienen«, kann zwar Zusammenarbeit geschehen, aber kaum Entwicklung stattfinden. Erst in einer vielschichtigen, nicht festgelegten Kommunikation herrscht eine Freiheit, in der das soziale Miteinander weiterentwickelt werden kann und ganz neue, komplexere Arten des Zusammenwirkens entstehen können. In Hinblick auf die Fähigkeit der Kommunikation nimmt der Mensch sicherlich eine Ausnahmestellung in der Natur auf diesem Planeten ein.
Wie die Alltagsrealität uns begrenzt
So natürlich, notwendig und segensreich das Erschaffen einer gemeinsamen Alltagsrealität für das Überleben, für die Funktionalität, für die Verständigung und das Zusammenwirken ist, so bringt es gleichzeitig mehrere Schwierigkeiten mit sich, denn eine kollektive Deutung der Wirklichkeit birgt nicht nur Chancen, sondern beinhaltet auch Begrenzungen. Diese sind keineswegs individueller Natur, sondern betreffen jeden Menschen, da alle (gesunden) Menschen sich im Laufe ihres Lebens zunächst mit der Konsensustrance einer Alltagsrealität identifizieren.
Leider werden uns die Begrenzungen der Alltagsrealität und die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht vermittelt, sodass wir typischerweise zunächst denken, dass sie unser persönliches Problem sind, wenn wir darunter leiden. Hier könnte das Wissen um die verschiedenen Bewusstseinsebenen, so wie sie in diesem Buch dargestellt werden, sehr hilfreich sein. Wenn wir nämlich erkennen, dass eine Schwierigkeit nicht persönlicher Natur ist, sondern aus einer kollektiven Begrenzung entsteht, werden wir sie nicht mehr fälschlicherweise als persönliche Schwäche oder eigenes Versagen bewerten. So brauchen wir uns nicht mehr in Selbstzweifeln ergehen, sondern haben die Freiheit, uns auf eine kreative Weise mit der eigentlichen Begrenzung auseinanderzusetzen.
Was sind nun die wichtigsten Begrenzungen, die sich naturgemäß aus der Alltagsrealität ergeben? Erinnern wir uns noch mal an die Grundeigenschaften dieser gemeinsamen Wirklichkeit. Sie ist in erster Linie eine Welt der Abstraktion und der Beschreibung – also eine Gedankenwelt. Dadurch entstehen auf der einen Seite solide, »handhabbare«, von uns getrennte Objekte, aber gleichzeitig auch eine Welt der Trennung. Durch die Abstraktion, also das Heraustreten aus der unmittelbaren Erfahrung, erzeugen wir einen künstlichen Abstand zwischen uns als Subjekt und dem, was wir erfahren. Die Wirkung ist ganz automatisch ein Kontaktverlust. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung geht verloren und die gedankliche Zuschreibung bestimmt unser Erleben.
Nur selten ist es uns als erwachsene Person vergönnt, dass das Wunder und die Schönheit eines Vogelgesangs oder die Kostbarkeit einer menschlichen Begegnung durch den Filter unserer Gedankenwelt dringt und uns zuinnerst ergreift. Dabei ist das Wunder und die Schönheit des Lebens in jedem Augenblick anwesend, aber das Gefangensein in der abstrakten Welt unserer Gedanken schottet uns davon ab. Ist es da ein Wunder, dass uns das Leben irgendwann flach und langweilig erscheint? Dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens mit Selbstentfremdung und Sinnlosigkeit zu kämpfen haben?
All diese Gefühle sind ein folgerichtiger Ausdruck eines inneren Kontaktverlustes, der sich automatisch ergibt, wenn uns die Alltagsrealität bestimmt. Dabei können wir durchaus auf der Oberfläche unseres Lebens nach gängigen Maßstäben erfolgreich und »glücklich« sein. Trotzdem kann sich innerlich eine gähnende Leere breitmachen und sich zunehmend eine große Unzufriedenheit einstellen. Wenn uns eine solche Sinnkrise erfasst und längere Zeit in uns wirkt, wird dadurch viel Lebensenergie abgezogen und wir fühlen uns immer mehr beengt und erschöpft. Vielleicht versuchen wir zunächst, der Erschöpfung mit einem Urlaub oder mit einer Reise zu begegnen, oder wir suchen die Leere mit einem neuen Hobby zu füllen. Wenn das nichts hilft, kommt irgendwann der Moment, in dem wir unser ganzes Leben infrage stellen und nicht selten dabei bestehende Strukturen umwerfen und äußerlich völlig neue Weichen stellen.
Doch meist hilft auch diese Radikalkur nur kurzzeitig. Natürlich bewirkt eine Lebensveränderung wie eine neue Beziehung oder eine Berufsumstellung zunächst ein Aufbrechen der inneren Routine und damit wieder mehr Frische und unmittelbaren Kontakt. Aber die Wurzel der Problematik, aus der die Selbstentfremdung und die Sinnkrise entstanden sind, ist damit weder erkannt noch gelöst, sondern nur aufgeschoben.
Die eigentliche Ursache für unsere Sinnkrise liegt in einem zunehmenden Kontaktverlust, der sich aus unserem Verhaftetsein mit dem Reich der Gedanken ergibt. Solange wir nicht lernen, Gefühle wie Leere, Langeweile, Unzufriedenheit und Sinnlosigkeit als Symptome einer zu starken Dominanz der Alltagsrealität zu deuten und gleichzeitig das Wissen und die Fähigkeit haben, bewusst andere Realitätsebenen aufzusuchen, sind wir dieser Dynamik weiter ausgeliefert.
Doch nicht nur eine schleichende Sinnkrise ist die Folge des inneren Kontaktverlustes und der damit einhergehenden Selbstentfremdung. Auch unsere natürliche Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl werden eingeschränkt. Je stärker wir in eine funktionale Welt eintauchen, desto weniger sind wir in Kontakt mit unseren Gefühlen und unserem Herzen. Wir spüren uns selbst nicht mehr richtig und genauso stumpfen wir auch gegen die Belange von anderen ab.
Die Folge ist eine innere Neutralität, in der wir bestens funktionieren und Ziele verfolgen können, bei der aber gleichzeitig unser Lebensgefühl abflacht und uns Situationen und Menschen nicht mehr tief berühren. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich diese scheinbare Neutralität als eine innere Gleichgültigkeit, die uns nach außen hin abschottet. Alles, was nicht unseren unmittelbaren Interessen dient, wird dabei aussortiert und geht uns folglich nichts mehr an.
Nur so lässt es sich erklären, wie es möglich ist, dass die Menschheit wider besseres Wissen weiterhin in unverantwortlicher Weise die Natur ausbeutet und damit viele Arten und sogar langfristig sich selbst bedroht. Oder wie lässt es sich sonst verstehen, dass unsere Gesellschaft oft so herzlos und gleichgültig mit der Not von Flüchtenden umgeht? Wie wenig sind wir doch bereit, unseren Reichtum zu teilen? Mit einem offenen Herzen, das interessiert am Schicksal anderer ist und empathisch mitschwingt, ist es nicht möglich, kühl und scheinbar sachlich kurzfristige Ziele und Eigeninteressen zu verfolgen, ohne dabei nach links und nach rechts zu schauen.
Wieder müssen wir uns vergegenwärtigen, dass diese Dynamik kein persönliches Problem Einzelner, sondern ein kollektives Geschehen ist. Der Kontaktverlust und die Funktionalität, die mit der Alltagsrealität einhergehen, entfremden uns grundsätzlich von einer fühlenden Aufmerksamkeit. Je stärker und je länger wir vom Funktionieren vereinnahmt sind, desto deutlicher machen sich Gefühle von Abflachung, Neutralität, Gleichgültigkeit, Desinteresse und innerer Verhärtung breit.
Natürlich hat der einzelne Mensch die Möglichkeit, aus dieser Dynamik auszusteigen und das Herz wieder über das Denken und Funktionieren zu stellen. Dies benötigt aber meist eine große Bewusstheit. Im Gegensatz dazu schleicht sich die kollektive Dynamik einer zunehmenden Identifizierung mit der Alltagsrealität und der damit einhergehenden Gleichgültigkeit von selbst immer wieder ein und legt fast unmerklich einen unsichtbaren Schleier der Fühllosigkeit und der Neutralität über unser Leben.
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