Um es Tara noch bequemer zu machen, zog ich die Vorhänge auf, doch Kasomir gestattete keine weitere Fürsorglichkeit. Sobald Tara einzuschlummern begann, überraschte er mich jedoch damit, dass er sich zu mir nach vorne beugte, um mit mir ein Gespräch zu führen.
„Vergebt mir, Euer Exzellenz“, sagte er. „Ich fürchte, Euch beleidigt zu haben. Die Sorge um die Gesundheit meiner Base ...“
„Denkt Euch nichts dabei“, sagte ich, wie man es so tut. „Ich hoffe, die Reise wird ihren Zustand nicht verschlimmern.“
„Zustand?“, fragte er schelmisch. „Was meint Ihr mit …?“
„Ihre angeschlagene Gesundheit“, antwortete ich.
„Ach“, sagte er. „Ich bitte Euch um Verzeihung. Caliphas ist die Wiege der Verleumdung in unserem Land, und die Ankunft meiner Base hat zu allerlei höchst abscheulichen Spekulationen unter unseren Standesgenossen geführt.“
„In der Tat.“
„Aber Ihr braucht mich nicht, um euch in dieser Beziehung zu belehren“, fuhr er fort. „Ich nehme an, dass auch Ihr die spitzen Zungen in Caliphas zu spüren bekommen habt.“
Ich nickte, weniger zur Bestätigung als mehr, um ihn zum Fortfahren zu ermutigen. Einen gedehnten Augenblick lang tat er dies nicht, und ich ließ das Schweigen an ihm nagen.
„Gräfin Caliphvaso sieht sehr gesund aus“, meinte er.
„Allerdings“, bestätigte ich.
„Wenn ich recht informiert bin, kennt Ihr sie seit geraumer Zeit.“
„Dem ist so. Wir begegneten uns, als ich auf meinem Weg zur Universität von Lepidstadt war, um einige Nachforschungen anzustellen.“
„Ah, dann müsst ihr mit Meister Nagrea bekannt sein, dem Fechtlehrer.“
Nun verstand ich, in welche Richtung Kasomir die Unterhaltung zu lenken beabsichtigte. Als ich an der Universität weilte, überredeten mich einige meiner Kommilitonen dazu, an einem traditionellen Brauch zur Feier ihres Abschlusses teilzunehmen. Nach der Komplettierung ihres Fechtunterrichtes bringen die Studenten ihre Rapiere und große Mengen Wein auf eine hochgelegene Klippe über dem Fluss. Dort stellen sie sich nacheinander mit ihren Fersen am Rand des Abgrundes auf und tragen dabei nur ein stählernes Visier, um ihre Augen zu schützen. Einer nach dem anderen prüfen ihre Kameraden ihre Kampffertigkeit und ihren Mut. Die Herausforderer müssen sich zurückziehen, sobald der Verteidiger ihnen eine Wunde, üblicherweise einen leichten Kratzer am Arm, zugefügt hat, doch erst nachdem der Verteidiger einen Streich im Gesicht erlitten hat, erlaubt ihm die Ehre, seinen Posten zu verlassen. Die Kameraden des Siegers erheben ihre Gläser auf ihn und gießen Wein auf die frische Wunde, um sicherzustellen, dass eine Narbe zurückbleibt. Unter den Adligen von Ustalav ist die Lepidstadtnarbe berühmter als ein gräfliches Siegel.
„Nein“, antwortete ich. „Eventuell fand mein Besuch vor seiner Amtszeit statt.“
„Ah“, machte Kasomir und musterte mein Gesicht. Er hatte zweifellos von Anfang an bemerkt, dass ich weder die berühmte Narbe noch ein Schwert trug. Versuchte er, mich zu provozieren? Es schien mir eine solch plumpe List zu sein, dass ich eine dermaßen offensichtliche Erklärung anzweifelte, dennoch sagte er nichts mehr, bis wir am Mittag eine Rast einlegten.
Kasomir begleitete seine Base bei einem Spaziergang rund um unser Lager am Straßenrand, während Nicola die Zubereitung eines kalten Mittagessens in die Wege leitete. Ich fand Radovan unter den Wachmännern, die Nicolas Kommandos entgangen waren. Die Einheimischen brachten ihm varisische Redewendungen bei, während sie sich ausstreckten, um die Schmerzen der Reise zu lindern. Zunächst war ich enttäuscht zu hören, dass die meisten dieser Ausdrücke Prahlereien und Beleidigungen in ländlichem Dialekt waren, die den Grundlagen des sauberen Varisisch zuwiderliefen, welches ich versucht hatte, meiner Dienerschaft während unserer Reise von Cheliax nahezubringen. Jedoch würde sich der vulgäre Dialekt für Radovan zweifelsohne als nützlich erweisen, wenn er mit den niederen Klassen in Kontakt kam.
Ich sah zu, wie Radovan einen seiner berühmten Tricks vorführte. Er und Grigor, der langhaarige Bogenschütze, standen ungefähr zwanzig Schritte voneinander entfernt, jeder leicht versetzt vor einer Birke, und beide hielten ein Messer aus Radovans Stiefelschäften seitlich in der Hand. Seit ich darauf bestanden hatte, sie als Vorbereitung für unsere Expedition versilbern zu lassen, beschwerte sich Radovan darüber, dass die Balance verlorengegangen sei, und hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Werfen mit ihnen geübt. Auf dem Boden zwischen ihnen lagen einige Silbermünzen – ihr Einsatz. Luka, der an der Seite stand, zählte rückwärts: „Drei … zwei … eins!“
Gleichzeitig warf jeder sein Messer in Richtung des Baumes des anderen. Radovans drang zwei Zoll tief in das Birkenholz ein, und nur einen Augenblick später fing er das Messer seines Gegenübers auf und schleuderte es zurück. Nur einen Zoll über dem ersten Messer blieb es zitternd stecken.
„Ein kleiner Trick, den ich unten in der Aalgasse gelernt habe“, erklärte Radovan ihnen auf Taldani.
Die Wächter murmelten anerkennend, sogar Grigor, der seine Wette verloren hatte.
Ich trat vor, um mitzuteilen, dass ich es vorzog, Kavapesta mit der gleichen Anzahl Finger zu erreichen, mit der wir Caliphas verlassen hatten, doch Radovan kam mir zuvor.
„Hört mal, Prinzipal“, sagte er. „Die haben mir noch ein bisschen Varisisch beigebracht: Ich bin größer, als ich aussehe. Mit mir ist nicht zu spaßen.“
Die Ustalaver lachten. „Guter Akzent“, sagte ich. „Die Redewendung bedarf allerdings noch des Feinschliffs.“
„Größer, als ich aussehe“, wiederholte er unter noch mehr Gelächter. Die Männer mochten ihn, dennoch fragte ich mich immer noch, wie fähig sie waren.
„Solange ihr Männer euer Training fortführt, seid doch so nett und erheitert mich mit einer Demonstration“, bat ich.
„Was wollt Ihr sehen?“, fragte Radovan. „Bogenschießen? Nahkampf?“
„Schwertkampf“, erwiderte ich.
„In Ordnung“, sagte er. „Anton, Luka!“ Der kahle Soldat und der Pferdedieb traten vor. „Zeigt dem Prinzipal, was ihr könnt“, sagte er auf Taldani und fügte auf Varisisch hinzu: „Nicht töten oder den Kopf schneiden. Ist zum Bessern.“ Er hielt eine Goldmünze hoch, wohl wissend, dass ich sie bei seinem nächsten Zahltag ersetzen würde.
Anton und Luka brauchten keinen weiteren Anreiz. Sie zogen ihre Waffen und traten aufeinander zu. Die Parierstange von Antons Schwert trug das königliche Wappen, die Waffe eines Veteranen. Luka trug einen Säbel, den er vermutlich bei einem Glücksspiel am Hafen gewonnen hatte. Sie gingen in die Hocke und ließen ihre Klingen einige Male aufeinanderprallen. Anton parierte einen Stoß gegen seinen Arm und konterte, wobei er Lukas Oberarm ritzte.
Radovan schüttelte den Kopf. „Das war erbärmlich“, sagte er zu Luka. Er warf Anton die Münze zu, doch ich fing sie in der Luft auf.
„Ich habe nicht um ein Schauspiel gebeten“, sagte ich. „Ich möchte sehen, ob ihr kämpfen könnt. Radovan, nimm Lukas Platz ein.“
„Kommt schon, Prinzipal“, sagte er. „Ihr wisst, dass ich nicht gut mit dem Schwert bin.“
Es stimmte, dass ich Radovan niemals mit einem Schwert in der Hand gesehen hatte, das er nicht zuvor einem Angreifer abgenommen hatte, und in diesen Fällen hatte er die Waffe entweder beiseite geworfen oder ihren Knauf dazu verwendet, seinen Gegner niederzuschlagen. Er bevorzugte den Kampf auf sehr kurze Distanz.
„Von mir aus“, sagte ich und legte meinen Mantel ab. „Leih mir deine Klinge, Luka!“
Der Wachmann zögerte kurz, bevor er mir seine Waffe übergab und sich zurückzog. Ich erspürte ihr Gewicht und durchschnitt einige Male die Luft. Es war keine ideale Waffe für ein Duell.
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