Da es so hoch gestapelt war, brachte das Gepäck die Kutsche aus dem Gleichgewicht, also hockte ich mich neben eine Kiste mit Armbrustbolzen und sah mich um. Die letzten bewohnten Bauernhöfe bei Caliphas lagen bereits eine Tagesreise hinter uns. Am Morgen waren wir an einigen zerfallenen Kaminen vorbeigefahren, den Grabsteinen verlassener Häuser. Seitdem war die Straße das einzige Zeichen menschlichen Lebens in der Landschaft. Sie wand sich hinauf in das bewaldete Gebirge bis zu einem Pass, von dem aus wir die winzige Grafschaft Ulcazar durchqueren würden, bevor wir nach Amaans einfuhren, das Hoheitsgebiet Graf Galdanas.
Es waren noch Stunden bis zum Einbruch der Nacht, doch die Schatten der Bergspitzen im Westen streckten sich nach uns aus, und ihre Finger kamen mit jeder Kurve näher. Ich spürte ein Frösteln und wünschte mir, unter der Jacke etwas Wärmeres angezogen zu haben. Ich hätte eines dieser wollenen Hemden kaufen sollen, die ich auf dem Markt von Vauntil gesehen hatte, doch nach einem langen Tag auf dem Trittbrett war ich zu müde, um selbst eine halbe Stunde in einem vernünftigen Bett gegen die Aussicht auf Bequemlichkeit einzutauschen. Es war keine Frage der Kohle – ich hatte das Geld aus Nicolas Börse als Einsatz beim Türme-Spiel verwendet, nachdem ich die Sczarni verlassen hatte. Ich war also flüssig. Man sollte meinen, Varisier seien beim Spiel mit den Turmkarten besser, doch Desna lächelte mir zu. Vielleicht spielten sie einfach nicht so wie wir unten im Süden. Sie bekamen nicht einmal mit, wie ich ihre Karten einsteckte, als ich ging. Ich streute damit noch Salz in die Wunden, das weiß ich, aber ich wollte einen genaueren Blick auf das hiesige Blatt werfen.
Die Aufmachung war anders als das, was ich bisher gesehen hatte, aber das war nicht ungewöhnlich. Im Laufe der Jahre hatte ich ein halbes Dutzend Variationen der Karten gesehen. Selbst in Cheliax verwenden die Wahrsager auf den Märkten sie für die Turmdeutung, und adlige Damen halten es für schick, sich über Kuchen und Likör ihre eigenen Menetekel zu legen. Mein alter Brötchengeber, Sandros der Schöne, verbot der Bocksherde das Spielen mit den Turmkarten, was er für unheilbringend, wenn nicht sogar für eine ausgemachte Gotteslästerung hielt. Er war übermäßig abergläubisch geworden nachdem er eine varisische Hexe um ihre Ersparnisse gebracht hatte und sich bald darauf langsam in etwas zu verwandeln begann, das einer Ziege ähnelte. Ich hatte ihn fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen, aber wenn es irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt gab, lief der verkommene alte Bastard mittlerweile auf allen Vieren und fraß aus Mülleimern.
Dadurch, dass er den Jungs das Spielen mit den Turmkarten untersagt hatte, machte er es unter uns nur beliebter. In den Jahren verbotener Glücksspiele in der Aalgasse hatte ich die unterschiedlichsten Turmkarten gesehen, sodass ich die vierundfünfzig Karten auswendig kannte. Trotzdem hatte ich noch nie eine gesehen, wie Malena sie mir gezeigt hatte. Das Motiv blieb mir wegen meiner Überraschung darüber lebhaft im Gedächtnis: Ein Mann, der ein Zepter hielt, eine Krone zu seinen Füßen, glühende Augenpaare an einem dunklen Hügel.
Ich wollte den Prinzipal fragen, ob er etwas über diese Karte wusste, doch er war mit seinen Gästen beschäftigt. Außerdem war er in letzter Zeit außergewöhnlich hochnäsig gewesen, und wenn man an seine Launen dachte, war ich nicht bereit, ihm von meiner Meinungsverschiedenheit mit den Sczarni zu erzählen. Ich würde einfach den nächsten Turmdeuter fragen, den ich traf. Es gab mindestens einen in jedem größeren Dorf in Ustalav.
Die Münze, die Malena mir gegeben hatte, war ein weiteres Rätsel. Das Gesicht des Mannes, der darauf abgebildet war, hatte etwas Bekanntes an sich. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich es schon einmal auf einem Gemälde oder in einem der Bücher aus der Bibliothek des Prinzipals abgedruckt gesehen hatte, doch das fühlte sich nicht richtig an. Es war, als wäre ich einmal jemandem begegnet, der wie der Mann auf der Münze aussah, doch die Erinnerung war in der Kindheit vergraben, die ich solange versucht hatte zu vergessen. Oder die Nebel von Ustalav beflügelten meine Vorstellungskraft.
Vor dem Aufbruch aus Caliphas hatte ich den Hufschmied bei den Ställen dafür bezahlt, ein Loch nahe dem oberen Rand von Malenas Kupfermünze zu stanzen und ein Lederband hindurchzuziehen. Seitdem trug ich sie wie einen Talisman um meinen Hals. Ich sagte mir, es sei ein Andenken, das mich an den Duft von Malenas Haar erinnerte, doch wenn es um Turmdeutung geht, bin ich nicht so skeptisch, dass ich nicht auf Nummer sicher gehen würde.
Die Lichter der Kutsche gingen an, als wir in ein dichteres Waldstück einfuhren. Selbst nach fünf Tagen war der Kutscher, Petru, von diesem Effekt noch immer überrascht, da er es gewohnt war, bei Dämmerung anzuhalten und an einem profanen Fahrzeug die Öllampen anzuzünden. Ich hoffte, der Prinzipal würde aus dem Inneren ein Auge auf ihn haben und die Lampen genau in dem Moment anzünden, wenn es ihn am meisten erschreckte. Doch das schien unwahrscheinlich, so wie der Prinzipal sich in letzter Zeit benommen hatte. Er wurde mehr und mehr wie jedes andere Mitglied dessen, was er als „Adelsstand“ bezeichnete.
Von meinem Ausguck auf dem Kutschendach aus entdeckte ich die Späher. Anton und Kostin ritten einige hundert Meter voraus und hielten auf der Straße nach möglichem Ärger Ausschau. Sie trugen ihre Armbrüste auf den Rücken gegürtet, also hatten sie nichts Außergewöhnliches entdeckt. Dimitru und Emil flankierten, wenn möglich, die Kutsche und ritten vor dem Gespann her, wenn das Unterholz neben der Straße zu dicht wurde. Grigor und Luka bildeten die Nachhut. Ich winkte dem Pferdedieb zu, zufrieden darüber, dass er sich nicht mit unserem besten Pferd davongemacht hatte. Zumindest noch nicht.
Zwischen dem Gepäck zu hocken war wesentlich bequemer als hinten an der Kutsche zu hängen, doch es führte mich in Versuchung, mich zurückzulehnen und ein Nickerchen zu machen. Selbst wenn ich hätte eindösen wollen, war das keine gute Idee, denn je höher wir ins Gebirge kamen, desto mehr Äste streiften das Dach. Nachdem ich nach der Armbrust gegriffen hatte, die ich neben der Kiste mit Munition untergebracht hatte, kroch ich nach vorne, um dem Kutscher auf die Schulter zu klopfen.
Petru schreckte auf, als ich ihn an der Schulter berührte, nickte mir dann aber zu. Als wir uns kennengelernt hatten, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als er in mir die Höllenbrut erkannte. Im Dunkeln komme ich als Mensch durch, oder wenn die Kneipe voller Betrunkener ist, aber für die meisten ist es offensichtlich, dass ich nicht wirklich einer von ihnen bin. Nur wenige hatten es so ruhig aufgenommen wie Petru, erst recht in Ustalav.
Petru war ein außerordentlich gepflegter Varisier von dreißig oder vierzig Jahren. Trotz seiner bescheidenen Geldmittel trug er einen Zylinder mit bunten Pfauenfedern, die in der Krempe steckten. Sein langer Frack war sauber, und ich hatte ihn dabei beobachtet, wie er den Mantel bei jedem Halt ausbürstete, nachdem er sich um die Pferde gekümmert hatte. Er hatte einen fantastischen spitzen Haaransatz und faszinierende Augen, wie Schauspieler oder Magier sie haben. Nicola hatte ihn angeheuert, aber das wollte ich Petru nicht zur Last legen. Er rutschte herüber, um mir auf dem Bock Platz zu machen, doch ich schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, die Pferde zu verschrecken.
„Wie weit noch, bis wir anhalten?“, fragte ich. Sein Gesicht war ausdruckslos. Ich hatte vergessen, dass er nur wenig Taldani sprach. „Viel weit?“, versuchte ich es in seiner Sprache.
„Hinter Brücke, zwei, drei Stunden. Nach Dunkelheit.“
Welche Freude, dachte ich bei mir. Kein Grund, guten Sarkasmus auf mein schlechtes Varisisch zu verschwenden.
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