1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Während der Rückfahrt nach Hause dachte ich über unser überraschendes und erstaunliches Zusammentreffen nach. Bedeutete diese erfreuliche Entwicklung nun auch wirklich das Ende ihrer Magersucht und damit das Ende ihrer Lügen? Oder wollte sie sich doch auch weiterhin durch ihr zukünftiges Leben lügen? Mit einer solchen Einstellung würde sie kaum glücklich werden. Ich wünschte ihr, dass sie den richtigen Weg fand, aber mir blieben doch einige leise Zweifel. Dennoch war dies eindeutig einer meiner besseren Tage, einmal abgesehen von dem bunten, fröhlichen Treiben auf dem Marktplatz.
Nach Literaturangaben werden nur 50 Prozent der Patienten mit Anorexia nervosa (Magersucht) geheilt. Vielleicht aber gehörte meine ehemalige Patientin ja auch zu diesen 50 Prozent.
4 Die versteckte Patientin
Mein Arztzimmer auf der Station war klein, sowohl räumlich als auch im Verhältnis zu den Bergen von Arbeit, die dort auf mich warteten. In Zukunft sollte ich noch mehrere Arztzimmer kennenlernen, die in der Regel ebenso die Grundfläche einer größeren Besenkammer hatten. Dieses mein erstes Arztzimmer hatte jedoch zwei Vorteile. Die Stationsküche lag direkt nebenan, wo immer eine Kanne frischen heißen Kaffees wartete. Wohlgemerkt handelte es sich um Bohnenkaffee, keinen Muckefuck, der seinerzeit auch noch verbreitet war. Diese Kaffeekanne sollte mich noch über so manche überlangen Nächte retten. Der zweite Vorteil bestand darin, dass es streng genommen gar nicht „mein“ Arztzimmer war, weil ich es mir mit einem Kollegen teilen musste. Die Schreibtische waren so zusammengeschoben, dass wir uns direkt gegenübersaßen. Daraus sollte eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit entstehen. Er war ein hilfsbereiter Kollege, auf den man sich immer verlassen konnte. Er war schon drei Jahre an der Klinik und damit der erfahrenste Assistenzarzt. Ich bewunderte seine Ruhe und Gelassenheit, er ruhte gewissermaßen in sich selbst. Sogar in dem hierarchischen Gefüge des Krankenhauses perlte eine Kritik von Vorgesetzten an ihm ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Eine gewisse Obrigkeitshörigkeit, zu jener Zeit noch weit verbreitet, war ihm völlig fremd.
Bei den „Bergen von Arbeit“ handelte es sich im Wesentlichen um die Akten entlassener Patienten, deren abschließender Arztbrief noch zu diktieren war. Da mir anfangs die notwendige Routine fehlte, um aus dem Krankheitsverlauf eines Patienten einen in sich schlüssigen Arztbrief zu formulieren, und es sich zudem um eine höchst langweilige Tätigkeit handelt, wuchs mein Aktenberg erschreckend schnell an. Die erste wichtige Routine entwickelte ich zunächst dahingehend, durch eine geschickte Stapeltechnik ein vorzeitiges Umstürzen des Aktenberges zu verhindern. Akuter Handlungsbedarf, also das Diktat der Arztbriefe, war aus einer Vielzahl von Gründen irgendwann aber zwingend erforderlich: Es handelte sich um Probleme der Statik, der vorhandenen Bebauungsfläche, der Kommunikation, des aktuellen Bedarfs, ein mentales Problem und strenge Vorgaben des Vorgesetzten: Entweder die Statik geriet gefährlich ins Wanken, und der Umsturz des Aktenberges stand trotz ausgefeilter Stapeltechnik unmittelbar bevor, oder ein Anbau zu einer Bergkette war mangels freier Schreibtischfläche nicht möglich, oder der Berg versperrte mir die Sicht auf meinen gegenübersitzenden Kollegen mit entsprechender Einschränkung der Kommunikation, oder man benötigte die Akte, weil der Patient kurzfristig wieder eingeliefert worden war, oder mein eigener Ordnungssinn meldete sich protestierend, oder schlimmstenfalls mahnte der Chefarzt das Diktat der Arztbriefe an. Besonders diese letzte Möglichkeit galt es unbedingt zu verhindern, die hohe Kunst bestand im Wesentlichen darin, bereits vor einer drohenden Erinnerung des Chefarztes aktiv zu werden. Dazu fand ich in der Klinik nur selten die notwendige Ruhe. Im Ernstfall schleppte ich also anfangs eine Tüte voller Arztbriefe mit nach Hause, um dort diktierend eine Nachtsitzung einzulegen, bis mir mit dem Mikrofon in der Hand die Augen zufielen und mein Kopf ermüdet auf die vor mir ausgebreiteten Krankenunterlagen gesunken war. Bald aber waren solche häuslichen Nachtsitzungen dann nicht mehr erforderlich.
Bevor ich selbstständig arbeiten konnte, begleitete ich meinen Zimmerkollegen bei den täglichen Visiten, auch bei den Chefarztvisiten. Das Ausfüllen des Aufnahmebogens der Patienten hatte im Gegensatz zu heutigen Gepflogenheiten höchst ausführlich zu erfolgen, darauf wurde mein Kollege von dem Chefarzt häufiger hingewiesen, und ich damit natürlich indirekt auch. Hingegen war mein Kollege eher ein Freund knapperer Befundberichte, wenn man es großzügig formulieren wollte. Auf dem Weg zum gewünschten Behandlungsziel schien er eine gewisse Arbeitsrationalisierung zu bevorzugen. Diesen Arbeitsstil behielt er trotz einiger Scharmützel mit dem Chefarzt übrigens bei, wie gesagt, er ruhte in sich selbst. Seine Diagnosen und Therapien waren allerdings überwiegend korrekt.
Bei einer der nächsten Visiten kritisierte der Chefarzt, dass eine der Patientinnen meines Kollegen mit einem Schlaganfall schon viel zu lange, nämlich sechs Wochen, im Krankenhaus lag. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters hatte diese Patientin nur einen leichteren Schlaganfall mit geringer Arm- und Beinschwäche erlitten, jedoch ohne Sprachstörung. Nun verhält es sich so, dass die Hinauszögerung einer Patientenentlassung durchaus und in mehrerlei Hinsicht zu einer Arbeitserleichterung führen kann. Zum einen ist das Bett belegt, sodass kein neuer Patient mit der üblichen Prozedur aufgenommen werden kann. Zum anderen kann das lästige, aber notwendige Diktieren des Arztbriefes in eine weiter entfernte Zukunft verschoben werden. Daher entsprach die bis dahin fehlende Entlassung der Patientin mit dem Schlaganfall in etwa der Arbeitsphilosophie meines Kollegen, keineswegs aber den Vorstellungen des Chefarztes. Bezüglich einer rechtzeitigen Entlassung trafen hier also vollkommen unterschiedliche Welten aufeinander. Folgerichtig ordnete der Chefarzt mit strenger Stimme die Entlassung der Patientin am nächsten Tag an.
Eine Woche später war die nächste Chefarztvisite angekündigt. Mein Kollege und ich saßen in unserem gemeinsamen Arztzimmer und ergänzten zur Vorbereitung der Visite die Krankenakten, machten hier und da noch eine Notiz oder ordneten Untersuchungen für den nächsten Tag an. Plötzlich wurde ich aus dieser betriebsamen Ruhe aufgeschreckt: „Verflixt noch mal, ich habe etwas vergessen!“, rief mein Kollege ärgerlich über sich selbst und schlug sich dabei mit der Handinnenfläche vor die Stirn. Ich schaute ihn fragend an. An diesem Tag schränkte ausnahmsweise kein Aktenstapel die Sicht auf ihn ein. Seine Stirn hatte sich in sorgenvolle Falten gelegt. Für einen kurzen Moment drohte dieser sonst so besonnene und ruhige Mensch seine Fassung zu verlieren, so schien es mir. „Ich habe total vergessen, die Patientin letzte Woche zu entlassen!“ Er hatte gerade die Akte der Patientin mit dem Schlaganfall aufgeschlagen. Ich musste mir zu meiner Schande eingestehen, dass ich auch nicht mehr daran gedacht hatte.
Nun war guter Rat teuer. Es blieb keine Zeit mehr für eine sofortige Entlassung, denn schon in wenigen Minuten würde der Chefarzt die Station zur Visite betreten. Und die Patientin konnten wir natürlich auch nicht innerhalb weniger Minuten einfach vor die Tür setzen. „Und jetzt?“, wollte ich ratlos wissen. Ich teilte vollkommen seine Einschätzung, dass wir auf eine größere Katastrophe zusteuerten. Schließlich war unser Chefarzt, obwohl nicht mehr der Jüngste an Jahren, für sein ausgezeichnetes Gedächtnis bekannt. Dieser Ruf eilte ihm weit voraus. Uns drohte großes Ungemach. Mein Gegenüber brütete angestrengt über der Patientenakte, fuhr sich sorgenvoll mit einer Hand durch die Haare und schüttelte ärgerlich über die eigene Vergesslichkeit wiederholt den Kopf. Mir fiel auch keine sofortige Lösung dieses durchaus ernsten Problems ein.
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