„Gehört diese zufällig Ihnen, Herr Fischer?“
Er schnappte nach dem Beweisstück wie ein Frosch nach einer Fliege. Dann wurde er sich der Unhöflichkeit seiner abrupten Reaktion bewusst.
„Äh, ja, Madame. Vielen Dank. Es ist nur …“
Smeralda lachte – nicht unfreundlich neckte sie ihn weiter, weil seine schüchterne Unbeholfenheit sie aufheiterte.
„Sie schämen sich meiner Gesellschaft?“
„Keineswegs. Niemals würde ich … Ich …“
„Keine Sorge, lieber Moritz. Ich verrate niemandem etwas.“
Wie auf Zuruf wurden die Lichter gedimmt. Smeralda zog Moritz auf zwei äußere Stühle in einer der vorderen Reihen. Ein Mann schritt den Gang, der zwischen den Stuhlreihen freigehalten worden war, hinab. Er hatte einen grauen Wollanzug mit einer Nelke in der oberen Jacketttasche an und einen strengen Seitenscheitel, der die welligen Haare zu kontrollieren suchte. Hinter ihm trippelte eine verhuschte, allerdings nicht unattraktive Dame mit schwarzen Haaren im blauen Ballkleid auf die Bühne. Die letzten Zuschauer setzten sich klatschend. Der Mann machte eine tiefe Verbeugung, während die Frau neben ihm unsicher lächelte. Dann legte ein Mann am Klavier, der irgendwie unbemerkt auf die Bühne gelangt war, los. Schaljapins Bass dröhnte durch den Saal, konterkariert vom hellen Sopran von Marthe Nespoulous. Smeralda drückte sich in die Lehne ihres Sitzes.
„Carmen“, erläuterte Fischer flüsternd zu ihr gebeugt.
„Nein, ich heiße Smeralda.“
Er blickte sie einen hilflosen Augenblick verwirrt an, bis sie ihn schelmisch angrinste.
„Ich weiß doch. War nur ein Witz.“
Bei der nächsten Arie, die durch den Saal dröhnte, legte Smeralda ihre Hand auf Fischers Knie, was ihn zu einer weiteren Unsicherheit animierte.
„Das ist mein Knie“, flüsterte er, um sich im nächsten Augenblick für seinen Kommentar zu schämen. „Natürlich, mein Bester, das ist es“, sagte sie mit unverschämter Selbstsicherheit und ließ ihre Finger etwas weiter hochfahren. Auf einmal tat es einen Ruck. Der ganze Dampfer schien für einen Moment stillgestanden und sich dann in einer Art Hechtsprung nach vorne bewegt zu haben. Fischer und Smeralda schauten sich erstaunt an und mussten dann beide ein Kichern unterdrücken.
Nach der Pause kamen sie nicht mehr zurück in den Saal.
Die Dunkelheit war ein alter Bekannter, ein Verbündeter. Während die Menschen um ihn herum das Licht suchten, als seien sie hilflos, wenn sie auf die Hilfe ihrer Augen verzichten mussten, breitete sich in ihm eine wohlige Wärme aus. Er stieg die Eisentreppen hinab, leise, verschwand im Schatten von Türeingängen, wenn in der Ferne vereinzelt Fußtritte klapperten. Er hatte sich sorgsam vorbereitet. Die Schleife des Stoffbands des kleinen Ledermäppchens mit einem sorgsamen Ziehen sanft geöffnet. Zärtlich die Stiletts gestreichelt, bevor er sich für eins entschieden hatte. Nun lag es in seiner Hand in der Tasche, die Spitze an seinen Fingerkuppen, mit gerade so viel Druck, dass der Hautballen nicht aufplatzte .
Nun traf er den anderen, unterhielt sich mit ihm, lachte mit leisem Hauchen, ging dabei hin und her. Ging hinter ihn und nahm die Hand aus der Manteltasche. Nun war der Moment, in dem er es merken würde. Nun .
All die anderen Menschen auf diesem Schiff wankten orientierungslos durch den Tag, gefangen durch ihre Träume und ihre Sehnsucht nach Wohl und ihrer Angst vor Wehe. Beliebig rasten sie durch ein bedeutungsloses Leben, das irgendwo einen Anfang genommen hatte und dementsprechend irgendwo enden würde. Nicht so er. Er hatte ein Ziel, klarer als jemals zuvor, und die Schönheit seines Auftrags trug ihn durch die Nacht. Er wusste. Er funktionierte. Und in der Übertretung der für die anderen höchsten moralischen Grenze, im Morden, würde er höchste Erfüllung finden .
Der andere merkte, dass etwas nicht stimmte, drehte sich zu früh um und schrie. Schrie laut, zu laut. Doch die Nacht hatte sich auf seine Seite geschlagen. Das Schreien des Opfers wurde übertönt vom hellen Crescendo der Singenden. Es wurde ein dreckiges, übles Geschäft. Er musste den Körper über die Dielen schleifen und fand in der Dunkelheit eine Eisentür. Er öffnete sie unter Aufbietung all seiner Kräfte, wieder mit Hilfe der Götter der Dunkelheit. Er schleppte den Leichnam zu den Kohlehaufen und schaufelte. Dann sah er, wie sich ein Schatten auf den schwarzen Kohlen ausbreitete. Jemand stand hinter ihm .
3. Tag, 21. Juni 1930 – Fischer
1.
Wenn man erwacht, dann befindet man sich meist in einem dämmrigen Zustand. Wer, wo, was bin ich? Ist das, was ich gerade erlebe, wirklich real? Für Fischer würde sich dieser Dämmerzustand in den nächsten 14 Tagen, bis das Schiff das Ufer Montevideos erreichen würde, nicht mehr auflösen. Es schien, als sei er mit Betreten des Ungeheuers in eine verkehrte Welt gelockt worden, in der eine geheime Feenkraft oder ein unbekannter Hexenzauber seine Wahrnehmung und sein Handlungsvermögen einschränkten. Das Licht, das seine morgendliche Nasenspitze umspielte, von der salzigen Kruste des Kajütenfensterglases gebrochen, war kalkiger als das, was er bisher von seinen vielen Reisen durch Europa im Auftrag der Fußballgemeinschaft kannte, und es machte den Tag, den er zu beginnen gedachte, unwirklicher und auf eine gewisse Weise nicht unangenehm zauberhaft. Er schalt sich, noch als er sich den Bauch unter der Decke kratzte, dass er sich in eine weibische Gefühlsduseligkeit begeben hatte, doch obwohl er sich beim Aufstehen im wahrsten Sinne des Wortes schüttelte, konnte er doch diese Aura des Unwirklichen weder von sich, noch von den ihn umgebenden Manifestationen einer äußeren Welt abstreifen. Auch das kalte Wasser, das er sich ins schläfrige Gesicht spritzte, als er über dem Keramikbassin stand, half nichts. Moritz, so dachte er sich, Moritz, du wirst alt. Immerhin also, und das ist auch so eine erstaunliche Eigenschaft des Menschen, schaffte er es doch, trotz des anhaltenden Erlebens des Betörenden, dem Ganzen eine Erklärung aufzudrücken und so die Veränderung, die seine Wahrnehmung unterwandert hatte, erträglich zu machen.
Die andere Möglichkeit der Anpassung an widrige Umstände, die dem Menschen zur Verfügung steht, ist die beruhigende Macht der Gewohnheit. Fischer zog sich seinen dunkelbraunen Wollanzug an, knöpfte sich die Manschettenknöpfe zu und verstaute seine Uhr im Jackenrevers. Er schaute in die etwas geschwollen aussehenden Augen, die ihn im Spiegel über dem Bassin entgegenblickten, klatschte sich einmal rechts und einmal links auf die Wange und kramte in den Tiefen seines mannshohen Koffers, bis er das gefunden hatte, was er suchte – etwas, das ihn zu jeder Zeit und mit verlässlicher Gewissheit beruhigte. Er setzte sich in den breiten Ledersessel, der in der einen Ecke seiner Kajüte aufgestellt war und ihn wie eine zärtliche Mutter umfasste, seufzte zufrieden und öffnete das Buch an der Stelle, in der er die kleine Fotografie des schiefen Turms von Vrbové, seiner Geburtsstadt, hineingelegt hatte. Aufgeregt begann er das nächste Abenteuer seines großen Vorbilds, Sherlock Holmes, zu lesen: „A Scandal in Bohemia“. Fischer hatte sich das bis dahin erschienene Gesamtwerk Conan Doyles aus England mitgebracht und den dritten, vierten und fünften Teil der in Leder eingebundenen Büchlein mit auf die Reise genommen, wohlwissend, dass er damit im besten Falle bis zur Ankunft in Montevideo versorgt sein würde. Er fing an zu lesen: „Für Sherlock Holmes blieb sie immer die Frau. Selten habe ich ihn sie mit einem anderen Namen erwähnen hören. In seinen Augen überstrahlt und beherrscht sie ihr gesamtes Geschlecht.“ Weiter kam Fischer nicht. Er sah wieder die voluminösen Brüste Smeraldas vor sich baumeln, dachte an die nicht lange vergangenen Stunden, schluckte, knallte das Buch auf den Boden und ging endlich forschen Schrittes aus der Kabine.
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