Giovanni sah wohl keine Veranlassung, den Maschinisten seinen Gast vorzustellen, noch schienen diese zu erwarten, das Eindringen in ihr düsteres Reich erklärt zu bekommen. Sie schlappten zurück den Gang herab, der an einer mit eisernem Geländer ausgestatteten Brücke endete. Hier gingen sie jeweils in gegensätzlicher Richtung einen weiteren vergitterten Gang hinab, welcher wiederum an einer Schaltwand endete, die mit blinkenden Konsolen, Thermometern, Druckmessern und Schalthebeln verziert war. Als Smeralda auf die Brücke trat, sah sie unter sich die ölige Wucht eines sich unendlich drehenden Gewindes, das schnaufende Geräusche machte. Unsicher blickte sie Giovanni an, der sich neben sie gestellt hatte und ebenso fasziniert wie sie auf die überdimensionalen rotierenden Bolzen hinabschaute. Dann nahm sie sich ein Herz und ging auf den Riesen zu, der neben der linken Konsolenwand stand und ins Nichts blickte. Sie winkte den Schiffsjungen zu sich heran, damit dieser übersetzen solle. Nach einigem Geschrei hin und her, raunte der Riese: „Dampfpropeller“. Wie er denn angetrieben werde, wollte Smeralda wissen, die nicht wirklich ein Interesse an den technischen Feinheiten hatte, allerdings das Gefühl hatte, die monotone Arbeit der Männer würdigen zu wollen. „Diesel oder Kohle“, bekam sie zu hören. Im Normalfall nutze man Diesel, im Notfalle könne aber auch mit Kohle erhitzt werden. Ein Dampfmotor mit doppelter Dämpfung, wurde sie noch informiert, das würde die Umsetzung der Kraft optimieren.
Bevor sie gingen, sah Smeralda die offene Tür im Gang, durch den sie gekommen waren, hinter der sich ein Schlund voller Kohle auftat – an der Wand hingen an Haken eiserne Schaufeln. „Der Kohleraum“, klärte Giovanni sie auf. Smeralda erschreckte sich, als sie neben sich den kleinen, hageren Mann stehen sah, der mit rußschwarzen Fingern auf den riesigen Kohlehaufen deutete und etwas für sie nicht Verständliches in das übertönende Ächzen der Maschinen krächzte. Wieder half Giovanni beim Übersetzen. „Er sagt, dass diese Kohle hier für den Notfall genutzt wird. Im Normalfall wird der Motor vom Diesel angetrieben. Sollte der flüssige Treibstoff aus irgendeinem Grunde ausgehen, kann man aber auch mit Kohle heizen.“
„Aber dazu bräuchte man doch unglaublich viele Tonnen Kohle“, warf Smeralda ein, die nur die ersten Ausläufer eines schwarzen Bergs gesehen hatte. Die roten Augen des kleinen Mannes verengten sich zu Schlitzen, als er sie mit gelben Zähnen angrinste und etwas sagte, das Giovanni mit ebensolcher Freude übersetzte. „Der gesamte untere Teil des Schiffes besteht nur aus drei Arten von Räumen.“ Des kleinen Mannes Augen glänzten, während er Smeralda anstarrte. „Dem Maschinenraum, in dem wir stehen, den davor gelagerten Kohle- oder Tankräumen, und den zwei Brennräumen, die in den zwei riesigen Schornsteinen enden, die durch das Schiff nach oben ragen. Der gesamte Bauch des Schiffes – drei Stockwerke – ist also voller Kohle oder Diesel.“
„Faszinierend“, sagte Smeralda, als sie die schwere Eisentür hinter sich wieder verschlossen hatten und sie leicht verängstigt an sich herabblickte, jedoch keine dunklen Stellen an ihrem Kleid feststellen konnte. „Wer sind die beiden?“
„Das sind Pupo und Trampolini. Das sind echte Legenden“, erklärte Giovanni nicht ohne Stolz. Smeralda nickte. „Sind die den ganzen Tag da drin?“, fragte sie. „Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Sie kommen noch nicht einmal zum Essen heraus. Das wird ihnen gebracht.“
„Schlafen die denn etwa auch da drin?“
„Aber nein, Señora.“
„Na, Gottseidank. Das wäre ja geradezu unmenschlich.“
„Die schlafen gar nicht. Vielleicht im Stehen oder so. Die haben zwar einen Platz in der Kajüte. Aber sie sagen, sie wollen die Maschine nicht im Stich lassen.“
Smeralda schaute Giovanni ungläubig an. „Was sagst du?“
„Die schlafen nicht.“
Smeralda dachte an die blutunterlaufenen Augen, mit denen sie der Kleine – war das Pupo oder Trampolini? – angeschaut hatte. Und jetzt, da Giovanni ihr diese absonderliche Tatsache mitgeteilt hatte, musste sie zugeben, dass sie die beiden schon innerlich mit einer gewissen Distanziertheit betrachtet hatte. Es war, als hätte sie bereits erkannt, dass sie ihre Menschlichkeit gegen eine Funktionalität eingetauscht hatten, die zwar auf den ersten Blick grausam wirkte, aber einer kalten Logik folgte. „Man kann nicht nicht schlafen“, sagte sie, als wolle sie sich an einem letzten Strohhalm festhalten. „Die können das“, erwiderte Giovanni mit einer Gelassenheit, die Smeralda etwas störte, wahrscheinlich, weil sie wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie in ähnlich unbeteiligtem Ton über die beiden reden würde. Als wolle sie sich selbst bestrafen, zwang sich Smeralda daher, weiter in den Untiefen der Maschine zu forschen, wie ein Arzt, der die Gedärme seines Patienten nach weiteren Krebsgeschwüren untersuchen muss.
Hinter den Maschinenräumen lagen die Schlafkabinen der Mannschaft. Dunkle Gänge mit ordentlich gemachten Betten reihten sich in der vom schwachen Licht durchbrochenen Dunkelheit aneinander. Am Ende des Schiffes lag ein erdig riechender Raum, in dem Smeralda zunächst auch Kohleberge vermutete. Es stellte sich aber heraus, dass dort der gesamte Kartoffelvorrat des Schiffs gelagert worden war. Am Paketraum vorbei gingen die Zwei aufs F-Deck, wo weiß gekachelte Waschräume für die Stewards lagen.
Smeralda merkte, dass sie nicht mehr aufnahmefähig war – als sei sie in einem Museum zu lange durch mit Gemälden behangene Korridore gelaufen. Und daher tat sie, was den allermeisten Frauen möglich zu tun war. Im Gegensatz zu Männern, die poltern, schimpfen, schlagen, quälen, zog Smeralda sich in ihre Kabine zurück, nicht ohne sich mit warmen, freundlichen Worten bei Giovanni zu bedanken, und – starrte. Der Sessel war einigermaßen bequem und sie blickte hinaus auf das vor ihr liegende Deck, auf dem sich ihr im Tageslicht lustwandelnde Passagiere offenbarten. Ein Mann mit kurzen Haaren, einem Schnurrbart und eine Frau mit zu Zöpfen geflochtenen Haaren, die ihr kleines Kind in ihren Armen trug, zwei seriös wirkende Herren in Anzügen, die in einer universalen Geste der Weisheit ihre Hände hinter ihrem Rücken verschränkt hatten, eine Horde trottender Fußballer (wieder einmal), eine Dame ganz in Weiß mit Schirm, ein eilender Steward mit zwei Küchenjungen, die ein Tablett auf Rollen übers Parkett schoben, ein mit traurigen Augen aufs Meer blickender Herr mit im Wind wehenden Haaren. Smeralda starrte. Und sie dachte nichts. Das war ihre Freiheit und ihr Privileg. Wenn andere müde waren, grummelig wurden, Ärger oder sogar Freude in ihren Eingeweiden verarbeiteten, starrte sie einfach hinaus auf das Schiff, das Meer, den Horizont, den unendlich blauen Himmel. Sie starrte so lange, bis sich die Dinge nicht mehr voneinander unterschieden, alles eins wurde, bis sie sich selbst nicht mehr wahrnehmen konnte. Und dann war es nur ein Hall aus der Außenwelt, der sie zurück in den tausendfach verlängerten Augenblick brachte, aber das war auch schon tausend Momente später. Und es war schade, dass das Wechselspiel von Gegensätzlichkeiten sie bald wieder eingeholt hatte.
Frisch gewaschen, wohlig gesättigt und neu geschminkt trat Smeralda in das vollgefüllte Musikzimmer ein. Überall standen Herren in Smokings neben Damen mit Stirnbändern oder enganliegenden Hüten, die sich über ihre Köpfe stülpten, sogenannten Cloches. In den Händen hielten sie Sektgläser oder Zigarettenhalter, Gesichter schauten entspannt auf ihre Gegenüber oder desinteressiert in eine unbestimmte Richtung. Die Bühne, die in der Mitte des Saals am hinteren Ende platziert war, war bis auf den Flügel und zwei Standmikrofone noch leer. Während Smeralda sich durch die Reihen quetschte, um sich zu den Stuhlreihen vorzuarbeiten, suchte sie den Raum nach bekannten Gesichtern ab. Sie erkannte Tarnoff, der in einem Kreis mit Menschen verschiedensten Alters und Aussehens stand und nur darauf gewartet zu haben schien, dass sie ihn erblickte – er warf ihr eine Kusshand zu. In einer anderen Ecke standen einige Fußballer in ihren dunkelblauen Jacketts und lachten, so vermutete sie, über anzügliche Witze. Den feschen jungen Mann, dem sie einen Platz freihalten sollte, konnte sie nicht in der Gruppe erkennen. Auf der anderen Seite des Saals, unter einem Ölgemälde nackter Musen, stand Moritz Fischer. Er schien sie gerade noch angesehen zu haben, hatte dann aber seinen Blick auf die roten Vorhänge am Rande der Bühne gerichtet. Langsamen Schrittes, mit einem gewissen Hüftschwung, der ihr die Blicke der männlichen Gesellschaft sicherte, ging sie auf ihn zu, zog eine rote Fliege aus ihrer Tasche und wedelte damit vor seinem Gesicht herum.
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