1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Sie begannen ihre Reise auf dem A-Deck, gingen die Promenade backbord entlang und traten in einen dunklen Raum ein, der sich als eine Vorratskammer herausstellte. Wobei Kammer wohl der falsche Begriff war. Der Raum ähnelte in der Größe eher Smeraldas eigener Kabine. Von der Decke hängende Zwiebelstrünke streiften Smeraldas Schulter, als sie an Wandschränken vorbeiging, die mit allerlei Konserven, mit Gemüse gefüllten Eimern und Obstsäcken gefüllt waren, Kartoffelkisten umrundete und anschließend in einen weiteren Raum mündete, der ungefähr die doppelte Größe hatte und mit vier Tischreihen ausgestattet war, die von nicht mehr ganz jungfräulichen weißen Decken belegt waren. Giovanni hatte sich zunächst vorsichtig vorgearbeitet, indem er vom runden Fenster in der Tür vorsichtig in den Raum gespickt hatte. Ein mittelalter Mann mit weißer Schürze zog von einem Tisch eine Tischdecke fort. Er rief Giovanni etwas auf Italienisch zu, was diesen dazu brachte, aus seinem Versteck hervorzukommen. Die beiden unterhielten sich lautstark und der Schiffsjunge deutete Smeralda mit einem Winken an, ebenfalls den Raum zu betreten. „Die Offiziersmesse“, kommentierte er. Als der Mann mit der Schürze, klein, mit strubbeligen schwarzen Haaren, Giovannis Begleiterin sah, verbeugte er sich kurz und nuschelte etwas, das wie „Signora“ klang. Dann wies er Smeralda mit einer schnellen Handgeste an, an einem der Tische Platz zu nehmen. Sie schaute Giovanni an, welcher mit den Schultern zuckte und sich setzte. Also tat Smeralda es ihm gleich. Kurz darauf kam der Beschürzte mit einem dampfenden Metallkännchen zurück, das den unwiderstehlichen Duft von Kaffee verbreitete. Er setzte noch mit Goldrand verzierte Kaffeetassen ab, sagte etwas, verbeugte sich und ging. Giovanni rief ihm im Gehen hinterher.
„Was hat er gesagt?“, wollte Smeralda wissen.
„Ach …“
Nun wurde Smeralda neugierig. „Nun?“
„Er hat Unsinn geredet. Er wünschte mir Glück bei meinem ersten Rendezvous.“ Giovanni schaute betreten auf den Tisch, während Smeralda lachte.
„Dann wollen wir unser erstes Rendezvous doch genießen, oder?“ Und so saßen sie beide da und tranken, bis Giovanni die Stille unterbrach.
„Wenn Cavesi mich hier erwischt, bin ich dran“, murmelte er vielsagend.
„Ach, dieser Cavesi. Du magst ihn wohl nicht, oder?“
Giovanni schaute auf. „Er ist verrückt. Das ist er. Und das ist der Grund, weshalb ich ihn nicht mag.“
„Nun, er scheint ja auch Schwierigkeiten mit dem Kapitän zu haben. Ich habe erlebt, wie er gestern aus dem Dinnersaal rausgeworfen wurde.“
„Der Käptn‘ is’n feiner Kerl“, kommentierte der Schiffsjunge. „Aber seit dem Streit zwischen den beiden ist Cavesi noch unausstehlicher. Und er war schon vorher nicht zu ertragen.“
„Was hast du denn gegen ihn?“
Giovanni antwortete nicht. Er schien mit sich zu ringen.
„Ist es seine politische Meinung?“
Giovanni blickte auf. „So kann man es auch nennen. Der Mann ist fanatisch. Ein völlig blinder Eiferer.“
„Aber warum stört dich das? Soll er doch glauben, was er will.“
Wieder druckste Giovanni herum und senkte sich tief in seine Tasse, um seine Gedanken zu verbergen. Schließlich, nachdem er sie mit einem halb schmatzenden, halb klirrenden Geräusch abgestellt hatte, legte er seine Hände auf dem Tisch zusammen und antwortete.
„Er ist wie meine Mutter.“
„Wie?“
„Sein Wahn. Seine Liebe und Unterwerfung. Meine Mutter ist genauso.“
Smeralda schaute ihren Gegenüber an. Sie verstand nicht ganz, was der Schiffsjunge sagte, aber aus irgendeinem Grund spürte sie tiefes Mitgefühl.
„Ich komme aus einem kleinen Ort in der Nähe von Genua. Meine Eltern sind einfache Menschen, wissen Sie? Mein Vater fährt jeden Tag aufs Meer raus, damit wir über die Runden kommen. Ich bin mitgefahren, seit ich sechs bin. Aber meine Mutter arbeitet nicht mehr.“ „Sie passt sicher auf die Kinder auf?“
„Nein, meine zwei älteren Geschwister sind alle schon weg, so wie ich. Die Kleine ist zuhause. Aber Mama kümmert sich nicht um sie.“
„Sondern?“
„Sie schreibt Briefe. Mehrere täglich. Sie sitzt am Küchentisch vor einem Foto unseres Duce und schreibt, wie sehr sie ihn verehrt und dass sie ihn noch einmal sehen will.“
„Noch einmal?“
„Ja, sie war einmal bei einem dieser Aufmärsche. Stand in vorderster Reihe. Und rausgeputzt war sie. Wie ein Panettone in der Weihnachtszeit. Kreischte und winkte. Wir anderen, Papa, Beppo, Giuliano, Camilla und ich, standen weiter hinten, aber sie ist irgendwann mal nach vorne gestürmt. Mussolini hat ihr zugewunken. Nachdem er auf seinem großen schwarzen Gaul vorbeigeritten ist, kam später ein Mann in einer schicken Uniform und hat meine Mutter gefragt, ob sie eine Privataudienz bei ihrem Duce del Fascismo haben wolle. Sie drehte sich kurz um und rief uns zu, dass sie nun den Duce sehen werde und weg war sie. Wir haben noch bis zum Abend vor dem Palazzo gewartet, dachten, sie müsse ja nun rauskommen. Tat sie aber nicht. Wir haben den letzten Zug zurück genommen. Am nächsten Tag kam sie am Nachmittag zurück, ganz aufgelöst, mit roten Wangen und einem abwesenden Blick. Danach hat sie meinen Vater noch mehr verachtet als vorher. Also ging er noch früher zum Fischen, kam noch später nach Hause, in der Hoffnung, mehr zu fangen und somit ihr Herz zurückzugewinnen. Aber ihr Herz hängt an einer Erinnerung und einer Fotografie, die in ihrer Kommode steht.“
Smeralda umfasste mitfühlend Giovannis Hände. „Du Armer. Das tut mir leid.“ Er blickte sie an. Und fuhr fort:
„Das Schlimme ist: Ein Teil von mir kann sie verstehen. Wir sind immer arm gewesen. Etwas, das Sie sich nicht vorstellen können, Señora. Aber wenn man immer mit Hunger im Bauch aufwächst, dann zermürbt einen das. Und was wäre, wenn der Duce uns tatsächlich ein besseres Leben geben könnte? Wenn es die Bolschewisten und die Royalisten wären, die das ganze Unglück über uns bringen. Und die Juden? Und die Neger? Ich verstehe das alles nicht, Señora. Aber wenn mir jemand einen Traum gäbe, der mir ein besseres Leben verspricht, einen Traum, der mich zu einem besseren Menschen macht – ich weiß nicht, ob ich ihm nicht auch verfallen würde. Und vielleicht ist dieser Duce ja genau der Mann, der das macht. Der besondere Mann.“
Smeralda streichelte einmal über die zusammengefalteten Hände des Schiffsjungen und ließ sie dann los. Sie blickte ihn scharf an, als sie sagte: „Meine Erfahrung, Jungchen, ist, dass Männer sich nicht so groß voneinander unterscheiden. Es kann sein, dass dieser Duce ein ganz toller Kerl ist. Es kann aber auch sein, dass er nur besonders hungrig ist.“
Die Kommandobrücke hatte etwas Überirdisches. Smeralda stellte sich so das himmlische Wolkenzimmer vor, in dem Gott saß und auf die Welt herabschaute. Der Raum zog sich fast über die gesamte Breite des Schiffes und lag so hoch, dass man vom Schiff selbst, wenn man am hinteren Ende der Brücke stand, nur noch die Spitze des Bugs sah. Während man nach vorne durch eine nicht enden wollende Glasscheibe, die nur von der Kommandostation in der Mitte unterbrochen wurde, in die Weite schaute, war die Hinterseite seltsam unspektakulär weiß. Lediglich ein Rettungsring mit dem Namen der Conte Verde und eine aufgemalte italienische Flagge prangten von dieser Wand. Ein Mann stand einsam vor dem Schaltrelais in der Mitte des Raumes und starrte nach draußen, verklärt und träumerisch. Er schien die beiden Gäste gar nicht zu bemerken. Erst als sie die Hälfte des Wegs auf ihn zu gemacht hatten, drehte er seinen Kopf und schaute sie an. Giovanni salutierte und erklärte: „Signora wünscht eine Führung durchs Schiff.“ Der Kapitän nickte. „Freut mich, Sie wiederzusehen, Signora Cortazar. Sie haben sich genau den richtigen Führer ausgesucht. Giovanni kennt jede Ecke unseres Dampfers und wird all ihre Fragen gewissenhaft beantworten können.“
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