Smeralda lächelte. „Sie sind zu gütig, Capitano.“
Er lächelte seinerseits und nahm ihre Hand, um einen Kuss anzudeuten. „Nennen Sie mich Amedeo.“
Smeralda errötete. Sie sah in das kantige und dennoch zart wirkende Gesicht des Kapitäns und blickte schnell wieder nach vorne, auf die vielen Anzeigen auf den Armaturen. Ein helles Licht schien alles in eine erhabene Dämmerigkeit zu tauchen und sie spürte das eine Gefühl aufsteigen, das sie auf der ganzen Hinreise von Montevideo bis nach Genua und bis zum heutigen zweiten Tag ihrer Rückreise gekonnt vermieden hatte.
Sie war gekleidet wie eine feine Dame, ihr enganliegendes Glasbatist-Jackenkleid aus Flamenga war verziert mit feinen Bändchen, Schleifchen, kleinen Krausen und Falbeln. Auf ihrem Kopf trug sie eine dunkelblaue Toque, die ihr wellendes blondes Haar nur ansatzweise verdeckte. Sie wusste, dass sie umwerfend schön war, dass ihr rundes, weiches Gesicht, in dem der volle rote Mund und die großen, dunklen Augen hervorstachen, die Männerwelt in Verzückung versetzte. Aber sie wusste auch, dass jeder an Bord wusste, dass sie alleine reiste. Und daher war ihr ihr Beruf auf die Stirn geschrieben. Jedem war klar, was sie war. Und das Gefühl, das sie sonst mit ihrem üppigen Lebensstil vertreiben konnte, die Scham, die sie, seit sie von zuhause fortgerannt war, wie ein unangenehmer Freund begleitete, übermannte sie hier auf der Brücke im Angesicht eines Mannes, der wie die Reinheit in Person wirkte.
Also hörte sie gar nicht richtig zu, als der Kapitän ihr die Armaturen erklärte, den Radar und die Kraft der Maschinen lobte, als er über die Schwierigkeit sprach, die Orientierung auf wilder See zu behalten und die noch größere Schwierigkeit, eine Mannschaft zu führen.
„… durch die Dampfturbinen mit doppelter Reduktion erreichen wir eine Geschwindigkeit von über 18 Knoten und das bei über 18.000 Bruttoregistertonnen.“ Pinceti schaute ihr erwartungsvoll ins Gesicht und Smeralda schaltete ihr angelerntes Lächeln an. „Das ist faszinierend, Kapitän.“
„Es tut mir leid, Signora. Ich langweile Sie hier mit technischen Daten, während Sie sich lediglich das Schiff ansehen wollen.“
„Nein, nein.“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Mir tut es leid. Ihr Vortrag war sehr interessant. Und es ist sehr freundlich von Ihnen, mir Ihre wertvolle Zeit zu opfern.“ Es kam nicht oft vor, dass ein Mann durch ihre Maske von aufgesetzter Freundlichkeit schaute, was sie zusätzlich verstörte.
„Giovanni. Zeig der Dame unser Schiff. Und lass dich nicht von einem anderen Langweiler wie mir aufhalten.“ Giovanni nickte devot und Smeralda fiel keine passende Antwort ein, mit der sie dem Kapitän versichern konnte, dass er sie keineswegs gelangweilt habe, und so machte sie einen unbeholfenen Knicks und folgte dem Schiffsjungen.
Die frische Luft tat ihr gut. Die Seebrise, die sich erfrischend auf ihr Gesicht legte, schien sie von ihrem schlechten Gewissen reinzuwaschen und so schob sie mit geschlossenen Augen die Hand am kühlenden Geländer nach unten. Sie hörte Stimmen in verschiedenen Sprachen, die sie nicht verstand, das dumpfe Geräusch von hölzernen Shuffleboardscheiben, die über den Boden zischten, das unendliche Rauschen des vom Schiff in zwei Teile geschnittenen Meeres, und das leise, monotone Dröhnen des Dampfmotors.
Die Dunkelheit im Raum, den sie betraten, war wie ein scharfer, schmerzhafter Schock. Es war auf eine seltsame Art still in diesem Raum und als Smeralda sich an die Schwärze gewöhnte, nahm sie bleiche Gesichter wahr, die sich ihr zuwandten. Jetzt wurde ihr klar, weshalb sie die Stille als sonderbar empfunden hatte: Man hörte das geschäftige Klappern von Besteck auf Tellern, das Knarren von Stühlen, das Kreischen von Messern auf Porzellan, aber keine Stimmen. In einem Raum, der außergewöhnlich klein und beengend wirkte, waren Tische in Reihen aufgestellt, an denen zusammengepferchte Menschen ihr Mittagsmahl einnahmen. Mütter saßen mit Kindern auf ihrem Schoß neben ihren Männern, Schwestern, Brüdern, Cousins und Cousinen (ältere Menschen konnte Smeralda nicht ausmachen), während in Anzügen gekleidete Herren mit pomadigen Haaren eifrig ihre Suppe löffelten. Der Raum wurde nur von schalen Bullaugen erhellt, als blickten die Götter voller Mitleid auf das Treiben der Menschen. Von einem Stahlträger, der sich an der Decke durch die Mitte des Raumes zog, hingen die Kopfbedeckungen der Männer: Seemannsmützen mit Schirm, Herrenhüte oder Schiebermützen. Die Decke war im Vergleich zu den prachtvollen Sälen oben recht niedrig. Ein großer Mensch musste aufpassen, dass er sich an den Stahlträgern nicht den Kopf stieß. Ein paar Flaschen Wein (alle leer) standen auf den Tischen. Die Menschen an der Tischreihe, die sich direkt vor Smeralda auftat, blickten sie schweigend an, was Smeraldas eben noch in den Hintergrund tretendes Unsicherheitsgefühl erneut verstärkte. Giovanni hatte sich still und leise neben die Tür gestellt. Nun sagte er: „Der Essenssaal der Emigranten.“ Erst jetzt bemerkte Smeralda einen Mann in vorderster Reihe, der sie auf eine etwas zu direkte, fast wahnsinnige Art anstarrte. Seine glühenden Augen, die von einem hellen Gesicht mit schwarzen, zurückgekämmten Haaren eingerahmt waren, wollten sie durchbohren. Dazu grinste er, als kennte er ein Geheimnis, das sie miteinander teilten. Smeralda lächelte unsicher, machte einen ebenso unsinnigen wie unischeren Knicks und stolperte hinterrücks aus der Tür heraus. Ein Windstoß von der Seeseite ließ ihren Hut etwas nach vorne rutschen.
„Giovanni“, schimpfte sie, „du kannst doch diese Menschen nicht einfach so beim Essen stören.“ Fühlte sie sich ertappt und zu plötzlich an ihren eigenen Hintergrund erinnert?
„Tschuldigung, Señora. Dachte, Sie wollten alles sehen“, erklärte der Gescholtene. Sie atmete durch. „Nein, ist schon recht“, erwiderte sie dann. „Zeig mir nur alles. Man darf keine Seite des Lebens ausblenden. Entschuldige. Die Luft war nur ausnehmend schlecht da drin.“ „Ja“, antwortete ihr Führer, „der Essensraum der Emigranten.“
So gingen sie direkt weiter hinab in die Untiefen des Schiffs und landeten, so war es ihr Wunsch gewesen, im dunkel pochenden Herzen des Monsters: dem Maschinenraum. Als sie in der Mitte des Schiffes eine dunkle Treppe hinabgestiegen waren, die nur vom vereinzelten Funzeln flackernder elektrischer Leuchten erhellt wurde, kamen sie an eine schwere Eisentür, die mit nichts außer einem seltsam fein gerundeten Metallhebel, den man zum Öffnen wohl herunterdrücken musste, verziert war. Allerdings bediente sich Giovanni keineswegs dieses Hebels, dessen abgegriffene Oberfläche sich vom metallischen Grün der Tür abhob, sondern er nahm eine auf dem Boden liegende Rohrzange, um damit gegen die Tür zu schlagen. Das Dröhnen der Schläge setzte sich auf gespenstische Weise von der Monotonie des einschläfernden Brummens des Motors ab. Smeralda schauderte. Nach ein paar Momenten schob sich die schwere Tür nach außen und zwei große Augen blickten von unten auf sie herauf. Ein kleiner Mann im mit schwarzen Flecken verdreckten Unterhemd und einem Tuch um den dürren Hals blickte sie an und lächelte dann ein trauriges Lächeln. Sie gingen an ihm vorbei und sahen, dass hinter der Tür ein weiterer fast auf komische Weise gegensätzlicher Mensch stand, der die Tür aufgedrückt haben musste. Er war doppelt so groß wie sein kleiner Counterpart und dreimal so breit. Seine schwarzen Haare korrespondierten gemäldehaft mit den buschigen Augenbrauen, den hervorsprießenden Bartstoppeln und den haarigen Armen, die das ebenfalls deutlich fleckige Unterhemd zu sprengen drohten. Am schwärzesten aber waren seine Augen, die nicht unfreundlich, aber zumindest unheimlich im künstlichen Licht des Raumes leuchteten. Beide Seiten des kleinen Ganges, auf dem sie nun standen, waren mit demselben Metall besetzt, das sich, je weiter sie nach unten gewandert waren, wie eine wuchernde Pflanze immer mehr auszubreiten schien. Das Metall schien sich sogar auf die Haut der Männer, die hier unten ihr Dasein fristeten, übertragen zu haben – derselbe Glanz ging von den grünlich bleichen Gesichtern der zwei Männer aus.
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