1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Es war einmal eine junge Frau, die in einem Land lebte, ähnlich dem unseren. In diesem Land herrschten die Mächtigen über die Menschheit. Sie verboten die Sprache und vernichteten Bücher und Zeitungen. Kommunikation wurde bestraft, Worte, ob geschrieben oder gesprochen, säten Zwietracht, die aus dem Land verbannt werden sollte .
Diese junge Frau, ihr Name war Mia, fand unter einem umgekippten Baumstamm ein altes Märchenbuch. Sie las die Geschichten in einem verbotenen Versteck und liebte die Worte, die rhythmisch zwischen ihren Lippen hüpften, ihren Kopf ausfüllten und sie worttrunken machte .
Und Mia fragte sich, ob die Sprache nicht auch Gutes bewirken und Liebe hervorbringen könnte …
ǢMAITJŌN – SCISSORS 4.0
von Rainer Schorm
»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Ludwig Wittgenstein »Tractatus logico-philosophicus« (1921/22)
Am 05. Mai 2041 wurde die Unterstützung für das Sprachsystem Scissors 2.0 endgültig beendet. Die Medialität hielt den Erregungsquotienten niedrig. Die Nachricht ging, wie gewünscht, im Medienrauschen unter. Der Prozess von Abonnent 85.396.448 ist idealtypisch und wird deshalb protokolliert und archiviert .
Bilanz des Korrektivs
Sprechwart G. Herlinger
SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf . Protokoll 05. Mai 2041. 09:15 Uhr
Frühstück war in Ordnung. Die perfekte Balance zwischen Proteinen, Fetten und Kohlehydraten. Der Kühlschrank muss einige Tofunarien nachbestellen.
Dennoch: Etwas fehlt. Ich kann auf Anhieb nicht sagen, was es ist. Das eigenartige Gefühl macht sich seit dem Aufwachen heute Morgen breit, eine Unsicherheit, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Ein eigenartiges Gefühl … oder ein Nicht-Gefühl? Ich kann es nicht näher beschreiben. Ob ich krank werde? Ich könnte mir etwas eingefangen haben.
Heute bin ich froh, dass ich von zu Hause aus arbeiten kann. Online-Expertise hat seit den zwanziger Jahren exponentiell zugenommen. Es ist eine Art der Isolation, aber gerade an Tagen wie diesem, empfinde ich das als angenehm.
Die Gespräche fühlen sich … holprig an. Die Kommentare des mLectors sind wie immer, aber es scheint Abstimmungsprobleme zu geben. Es sind nur Kleinigkeiten. Vielleicht sollte ich eine Dependance des CSC aufsuchen. Das Center for Speech Control ist nicht unbedingt in der Nähe, also verschiebe ich das. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht ganz auf der Höhe. Das soll bei höherem Alter vorkommen. Ich bin weder fiebrig, noch zeige ich andere Symptome, also vielleicht ist das die Erklärung.
Das Gefühl verstärkt sich den ganzen Tag über. Erst als ich die Kommunikation einstelle, legt sich die unerklärliche Nervosität.
SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf . Protokoll 06. Mai 2041. 07:23 Uhr
Es ist nicht vorüber. Ich fühlte es sofort, als ich aufwachte; eine Art Leere, die um sich greift.
Das Update! Die Aktualisierung des Compendiums ist ausgeblieben, deshalb gestaltet sich meine Kommunikation, mein Sprechen derart holprig. Ich bin nicht mehr up to date.
Es war ein Schock.
Plötzlich und ohne jede Vorwarnung ins Ungewisse gestoßen zu werden, damit hat niemand gerechnet – ich zuallerletzt. Ich gehe die Arbeit voller Unruhe an und sie verschwindet nicht.
Die beruflichen Gespräche sind zumeist unproblematisch. Ich verkneife mir jeden Kommentar, der über das Sachliche hinausgeht.
Die privaten Gespräche sind eine Katastrophe. Ich habe krampfhaft versucht, die Korrektiven umzusetzen. Sprache formt die Realität – davon ist jeder überzeugt, der guten Willens ist. Wie könnte es anders sein? Meine Unzulänglichkeit wurde mir mit jedem Satz schmerzlicher bewusst. Ohne aktuelles Compendium muss der mLector mit veralteten Sprachkorrektiven arbeiten. Bereits nach einem Tag sind die Diskrepanzen gewaltig. Das Compendium for Speech Control wird vom CSC ständig aktualisiert, damit jeder Abonnent die neuesten Korrektiven kennt und reibungslos und ohne Diskriminatoren sprechen kann. Das CSC ist eine spezielle Abteilung des Korrektivs , die Behörde, die aus dem im Jahre 2028 verstaatlichten Duden-Verlagskonglomerat hervorging.
Nun kann jeder Begriff ein Falschwort sein. Normalerweise geschieht die Aktualisierung einmal, in Notfällen zweimal am Tag. Etwa wenn das Korrektiv nicht nur Begriffe, sondern ganze Beziehungszusammenhänge als schädlich einstuft. Ich habe das zweimal erlebt: Das Chaos im Kopf war grandios. Jetzt sehne ich mich geradezu danach.
Zunächst glaubte ich an ein technisches Problem. Wenn Warteschleifen entstehen, habe ich ganz sicher keine Priorität. Das beweist schon meine Abonnentennummer. Ich bin einer von vielen … von sehr vielen. Technische Systeme können ausfallen, das ist eine Binsenweisheit. Dennoch: Diese Möglichkeit nimmt niemand ernst. Man verdrängt es.
Ich sollte mir keine Sorgen machen. Solche Dinge sind lästig, aber werden schnell behoben. Die Unsicherheit ist überschaubar und bringt einen selten in Schwierigkeiten. Das Center for Speech Control bietet für diesen Fall Rechtsschutz – bis zum nächsten Update.
Das Compendium muss selbstverständlich aktuell sein. Kein Mensch könnte all die Stolperstricke, die die Sprache bereithält, vermeiden. In Sprache stecken viele tausend Jahre überkommener Sprachbilder, Diskriminierungen und unakzeptabler Wertungen. Die neue Welt ist schöner ohne all das. Oder kam mir das nur so vor?
Wie auch immer: Der Ausfall ist eine Katastrophe.
Sprechisolation!
Und nun … bin ich abgeschnitten. Ganz einfache Dinge werden übergangslos sehr kompliziert und unberechenbar.
Ich hatte vor, einkaufen zu gehen. In der Vichy-Straße befindet sich ein Fairsell, mein bevorzugtes Lebensmittelzentrum. Seit Langem wird diskutiert, ob der Straßenname, der für das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime steht, geändert werden muss. Eine Entscheidung ist bisher nicht gefallen, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Frankreich hat sich trotz diplomatischen Drucks geweigert, die Stadt komplett umzutaufen. Es hat Frankreich moralisch diskreditiert. Der Druck, kommunal zu reagieren, stieg danach. Der Streit bezieht sich nicht darauf, ob man den Namen ändert, sondern um die Neubenennung. Jeder Vorschlag wird auf Belastungen abgeklopft. Das Problem ist, dass die Historie an sich belastet ist, da sie unsere moralischen Standards nicht einmal annähernd erfüllt. Das Risiko, eine aktuelle Person als Namensgeber zu wählen, ist naturgemäß sehr groß, da zukünftiges Wohlverhalten nicht vorausgesetzt werden kann. Menschen können sehr schnell toxisch werden – und keineswegs nur Männer.
Normalerweise würde mir das Compendium bereits beim Denken des Straßennamens einen Hinweis geben, um Kontaktschuld vermeiden zu können. Ich wäre automatisch auf dem neuesten Stand. Alle offiziellen Stellen sind vernetzt, und das betrifft uns Sprachbürger gleichfalls.
Aber ich weiß nichts.
Nichts!
Die Gefahr ist nicht sehr groß, ich weiß, Benamungen der Umgebung haben ein geringes Belastungslevel. Was mich umtreibt, ist das Wissen, dass ich nicht gewarnt werden würde, sobald die Toxizität steigt. Das kann sehr schnell geschehen. Es ist Angst vor der Angst.
Ich entscheide mich, umzukehren und nach Hause zu gehen. Ein junger Kerl rempelt mich an. Aus leblosen Karpfenaugen mustert er mich, als könne er meine Unsicherheit fühlen. Junge Leute sehen seit Längerem so aus, warum auch immer. Vielleicht hat sich in den Köpfen zu viel Mikroplastik abgelagert? Ich habe es bisher immer ignoriert. Es kommt mir vor, als sei das nicht mein Entschluss gewesen. Wie komme ich nur auf eine solche Idee? Die Unruhe in mir wächst und wächst. Bald wird daraus eine handfeste Panik werden. Das ist momentan die einzige Sicherheit, die ich habe.
Читать дальше