1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Der Himmel ist wolkenlos. Die Unendlichkeit dahinter macht mir Angst.
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 07. Mai 2041. 07:35 Uhr
Die Nacht war furchtbar. Ich habe versucht, mir Informationen zu besorgen. Natürlich unterliegen viele Quellen der # Fragwürdigkeit #, weil ihr inhaltlicher Tenor nicht erwünscht ist. Gegenströmungen verlangsamen den Fortschritt, und das ist unakzeptabel. Sie auszumerzen, ist bisher nicht komplett gelungen. Das Netz bietet unverändert einige Nischen und Freiräume, aber man hat es geschafft, diesen Reaktionären die Geldmittel und Werbeträger weitgehend abzugraben. Auf jeden Fall gibt es keine Möglichkeit, das aktuelle Compendium individuell zu laden. Das ist nicht vorgesehen. Ich schweife ab … meine Konzentration ist hinüber.
Ich fand nichts. Keine Nachricht, keine Information darüber, dass das CSC Schwierigkeiten haben könnte oder dass das Compendium nicht mehr aktualisiert würde. Es ist alles in schönster Ordnung, wie es scheint.
Das Update bleibt unverändert aus. Es fällt mir immer schwerer, an eine technische Störung zu glauben.
Ich sollte ein wenig schlafen und kann es nicht. Meine Gedanken kreisen wie wild, auf Bahnen, die beunruhigend sind. Mein Denken gerät außer Kontrolle.
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 08. Mai 2041. 10:48 Uhr
Ich habe mit Frank gesprochen, ohne ihn direkt zu fragen. Bereits der Verdacht, man sei kein # Comrade # mehr, ist schwerwiegend. Leute brechen den Kontakt bereits aus sehr viel geringeren Anlässen ab. Nähe kontaminiert. Er wirkt ebenfalls nervöser als sonst, aber das könnte ich mir selbstverständlich einbilden.
Ich weiß nicht, mit wem ich darüber reden könnte. Jüngere Leute habe ich nicht in meiner Bekanntschaft. Den Großteil dessen, was sie von sich geben, verstehe ich nicht. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Zudem ist der trübfischige Blick unangenehm.
Meine Vorräte werden knapp. Allzu häufig sollte man sich nicht beliefern lassen; die Logistikunternehmen und Bringdienste stehen unter argwöhnischer Beobachtung. Vieles wird durch Häufung umweltschädlich. Ich muss also vorsichtig sein. Es ist perfide: Ich traue mich nicht aus dem Haus. Die Gemeinschaft, die doch angeblich Geborgenheit schenkt, ist zur Bedrohung geworden. Meine Welt steht kopf.
Begegne auf dem Weg in den Keller einem Nachbarn. Wir wechseln kein einziges Wort.
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 09. Mai 2041. 10:27 Uhr
Bereits vier Tage!
Unverändert kein Update. Eine beängstigende Sicherheit macht sich in mir breit: Mein System wird nicht mehr unterstützt. Kann das sein? Das bedeutet, dass die Formulierungskomponente nicht auf dem neuesten Stand ist und das dauerhaft. Die Wortwahl unter Scissors 2.0 , also den verbindlichen Vorgaben des CSC, des Center for Speech Control, wird in Echtzeit kontrolliert und bereits bei der Formulierung kritisiert.
Als unerwünscht erfasste Begriffe werden vom mLector , einem überaus komplexen Sprechalgorithmus, vor der Artikulation ausgebremst. Das funktioniert über eine neuronale Kopplung des CSC-Links zum Index im Gyrus temporalis medius. Im Sprechzentrum bauen Nanomaschinen eine Schnittstelle auf. Ich versuche, mir die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Scissors 2.0 läuft bereits seit über zwanzig Jahren. Viele der Funktionen und Algorithmen habe ich vergessen. Die AGBs allemal. Ich frage mich, ob sie überhaupt jemand jemals durchgelesen und verstanden hat.
Meine Unzulänglichkeit hat dazu geführt, dass ich mich mehr mit dem System beschäftigt habe als jemals zuvor in meinem Leben. Es war immer da und es hat immer funktioniert
Das Problem ist, dass der mLector die Begriffe kommentiert, gleichgültig, ob ich rede oder nicht. Ich bin zunehmend unsicher und vermeide es, zu sprechen. Keine Speechcoms, keine direkten Anrufe. Ich beschränke mich auf schriftliche Kommunikation – wobei ich die Texte zum einen deutlich kürzer halte als sonst und sie zweitens etliche Male kontrolliere. Noch stärker lassen sich die Sätze nicht reduzieren, sonst lande ich bei ein oder zwei Worten. Als ob sich damit etwas Wesentliches sagen ließe. Es fühlt sich an, wie ein immaterieller Maulkorb; unangenehmerweise bin ich bei dieser Metapher der bissige Hund. So fühle ich mich ganz und gar nicht. Ich bin verängstigt und unsicher. Also spreche ich immer weniger.
Eine Mute- Taste fürs Denken; es schadet dem Selbstbewusstsein unglaublich.
Ich stehe im Hausflur und schaue mich um. Auch das ist auffällig: Ich habe das unangenehme Gefühl, dass mich alle anderen beobachten. Bizarrerweise sogar dann, wenn niemand zugegen ist.
Manchmal stelle ich mich in die geöffnete Tür, wenn jemand nach Hause kommt. Viele Bewohner haben den eigenartig fischigen Blick. Es fällt mir erst jetzt auf, dass beinahe alle deutlich jünger sind als ich. Es ist unangenehm, so angeschaut zu werden. Das war es immer, aber erst jetzt beginne ich, darauf zu achten.
Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass ich mir selbst eine Paranoia attestiere. Netter Einfall! Funktioniert dummerweise nicht.
Derart isoliert zu sein ist bedrohlich. Ich schwitze häufig ohne Grund und dann rast mein Herz, wie nach einem Lauf. Ich bin sehr lange nicht mehr gelaufen. Die Jahre fordern ihren Tribut. Körperlich könnte ich es wohl, aber mir fehlt die Energie.
Dieser Wohnblock hat jetzt etwas von einem Gefängnis; nach über zwanzig Jahren, die ich hier lebe. Es ist ein wenig, als bewege man sich in einer labyrinthartigen Ansammlung übermannshoher Monolithe. Zu groß, um darüber hinwegschauen zu können, kein erkennbarer Horizont. Und obwohl es nur einzelne Steine sind, die eng beieinanderstehen, ist man allein zwischen ihnen und verloren. Man nimmt sonst niemanden wahr, gleichgültig, wie viele sich noch durch diesen Irrgarten bewegen.
Die Vereinzelung, die daraus resultiert, macht mir zu schaffen.
Die Desorientierung nimmt zu. Essen muss ich trotz allem. Dass Einkaufen einmal zur Mutprobe werden könnte, hätte ich niemals vermutet. Es ist längst nicht mehr nur der toxische Straßenname. Mein Hals wird eng.
Dort draußen muss man sprechen …
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 09. Mai 2041. 00:27 Uhr
Ich kann nicht einschlafen. Meine Gedanken schwirren wie wild durch meinen Kopf, ebenso wild kommentiert vom Compendium. Im Zustand des Dösens kann man Gedanken nicht im Zaum halten. Es ist erschreckend, wie unkorrekt man denkt, wenn die Schutzwälle des CSC in sich zusammenbrechen. Die ungezügelte, überkommene Natur meldet sich zu Wort – und diese Worte sind … böse !
Man sollte denken, wir hätten das überwunden. Aber dem ist nicht so.
Langsam frage ich mich, ob nicht bereits die Annahme, man könne die reale Natur – wie die Hirnfunktion etwa – überwinden, der eigentliche Fehler ist. Es klingt so … unsinnig. Kann man Hunger überwinden? Verdauung? Stoffwechsel? Sex? Das Atmen? Aber das ist Biologismus und damit unakzeptabel. Aber ist das nicht genau das, was wir sind, wenn man uns isoliert? Ich versuche mir vorzustellen, was bleibt, wenn man uns unsere Biologie wegnähme. Versuche erneut, einzuschlafen.
Morgen muss ich nach draußen …
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 07:58 Uhr
»He, Sie! Was fällt Ihnen ein?«
Die Frau zuckt zurück, als habe sie eine elektrische Leitung berührt. Es ist eng hier, im Feierabendverkehr ist die Magnetbahn komplett überfüllt. Seit den Tagen der Pandemie reagieren viele Menschen auf Nähe sehr extrem. Insofern ist der öffentliche Nahverkehr eine Art Kriegsgebiet. Ich zucke ebenfalls zurück. Eine instinktive, aber keine kluge Reaktion … eher ein Schuldeingeständnis. Ich vermute richtig.
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