1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 »Nehmen Sie Ihre Griffel weg!«
Ich beiße mir auf die Lippen. Bereits das ist ein körpersprachlicher Fehler, ich weiß. Bloß nichts sagen. Auf keinen Fall.
Habe ich sie etwa berührt? Ich erinnere mich nicht daran, etwas gespürt zu haben, aber auf meine Einschätzung kommt es nicht an. Außerdem bin ich übermüdet, wie ich es nie zuvor war. Alles in mir ist in Alarmbereitschaft, ich fühle mich fiebrig. Es war ein Fehler, aus dem Haus zu gehen, das war mir bereits nach den ersten Minuten klar. Aber ich musste ja den Helden spielen.
Mit denen nimmt es üblicherweise ein böses Ende.
Die Frau starrt mich an, als sei ich ein Insekt. Natürlich stehe ich als weißer Mann bereits grundsätzlich unter Verdacht, aber daran hatte ich mich gewöhnt – zumindest ging ich bisher davon aus. Dazu kommt, dass ich nicht mehr jung bin. Ein Euphemismus.
Die fette Frau [Warnung! Keine Gewichtsdiskriminierung.] gluckst unangenehm und die ersten Leute um sie herum wenden ihre Blicke mir zu. Das Framing funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. [Rassismuswarnung! Keine nationale Zuschreibung.]
Ohne Vorwarnung stehe ich unter Strom. Ich kenne die Reaktionsabläufe. Jeder tut das, heutzutage. Der Vorwurf wird als Faktum betrachtet. Die Panik in mir löst die letzten begrifflichen Hemmungen. Die Zicke ist auf Krawall gebürstet!
[Sexismuswarnung! Gruppenorientierte Feindseligkeit gegen Frauen. Wird eine Handlung/Äußerung als sexistisch empfunden, ist sie es per definitionem auch. Bereits die Infragestellungdes Sachverhalts erfüllt ihn.]
Wenn der mLector derart ausführlich kommentiert, wird es unangenehm. Die Unschuldsvermutung ist längst still verstorben. Bisher fand ich das positiv. Am Zwinkern ihrer Augen sehe ich, dass sie etwas postet. Sie ist voll im Trend und über einen GawkPin in der Hornhaut vernetzt. Ihr Kopf wackelt empört hin und her. Wenn ich Glück habe, ist das gepostete Bild unscharf, obwohl die Autokorrekturen das üblicherweise verhindern.
»Kein gutes Zeichen …« , denke ich.
Wird ein solcher Vorwurf viral, hat man verloren. Die Schnelligkeit der Polyposts verhindert Nachdenken, Abwägen oder ähnlich fruchtlose Tätigkeiten. Die Sorgfalt ist nicht still verstorben, sie wurde mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Es reagiert das unmittelbare Gefühl. Nietzsche sagte einmal, dass sich die Reife eines Geistes an der Dauer der Verzögerung der Reaktion zeigt. Wann habe ich das gelesen?
[Anmerkung: Der Gedanke kann zu mentalem Extremismus führen. Nietzsche ist als toxische Quelle belastet und nicht zitierungsfähig. Streichen.]
Die Frau ist empört und scheint sich in ihren Zustand hineinzusteigern. Der dicke Kopf mit den Pausbacken ist puterrot. Sie wedelt wie verrückt mit den Händen. Sie schwitzt. Ich ebenfalls.
Immerhin kann ich die Gedanken noch selbst fassen. Der SC-2.0 unterdrückt lediglich die Äußerung und kommentiert. Würde ich all das aussprechen, was mir durch den Kopf geht, wäre ich verloren.
Wir fahren in die Station »Dittmanswiesen« ein. Ich sehe zu, dass ich den Waggon verlasse, ohne weiter aufzufallen. Das Gedränge der Menschenmenge hat ihre Vorteile.
Obwohl der Mai sehr warm ist, fühlt es sich kalt an, als ich nach draußen trete. Es ist, als gefrören die Schweißtropfen auf meiner Haut zu Eis. Ich bin ein Nervenbündel; sich selbst krampfhaft beruhigen zu wollen, klappt selbstverständlich nicht. Ich hatte das niemals nötig. Mein linkes Augenlid zuckt hektisch und es hört einfach nicht auf.
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:17 Uhr
Ich schalte den Einkaufswagen über die Shopapp frei. Wenn man am liebsten unsichtbar wäre, bemerkt man erst, wie sehr man im Netz hängt. Gleichgültig, was man tut, man ist auf dem Schirm.
Jetzt bin ich sicher: Sie beobachten mich. Der Eindruck trügt nicht – es sind die jungen Menschen, die den trüben Blick zeigen. Nun ist »junger Mensch« aus meiner Perspektive sehr relativ. Ich bin mittlerweile ein alter Sack. Nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, ist zwar nicht strafbar, aber man verliert viele Vorteile. Für die meisten ist das ein weiterer, guter Grund, sprachlich nicht aufzufallen. Ich bin da keine Ausnahme.
Das Fairsell-Lebensmittelzentrum ist geöffnet. Meine Befürchtungen waren unnötig. Ich schäme mich meiner Angst. Was Einbildung alles auslösen kann.
Ich belüge mich selbst und versuche mir einzureden, dass das nächste Update sicher bald kommen wird.
Ich kaufe mehr ein, als ich ursprünglich vorhatte. Ich kompensiere, das ist mir klar, aber der Drang ist überwältigend. Immerhin muss ich mir hier keine Gedanken um die Qualität der Produkte machen. Fairsell garantiert höchste ethische Standards. Dennoch könnte die schiere Menge Anstoß erregen. Konsumismus gilt als überholt, ja überwunden. Unser Land ist progressiv, gleichgültig, ob man Schritt halten kann.
Der Zweifel wächst, es fühlt sich nicht fortschrittlich an, sondern einengend. Mir wird übel. Hoffentlich kotze ich dem Fairsell nicht vor die Tür. Derart unsoziales Verhalten bedeutet heftigen Punktabzug im LifeAccount. Das kann ich in meiner Situation ganz und gar nicht brauchen.
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:26 Uhr
Es ist eine Tortur. Ich höre die anderen sprechen. Da dies mein bevorzugtes Fairsell ist, kennen mich viele. Ich versuche krampfhaft, allen Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Der mLector arbeitet ohne Unterlass, denn die Neigung, auf Fragen oder direkte Ansprache zu antworten, ist stark. Es ist so anstrengend, still zu bleiben. Mein Kopf droht zu platzen. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte.
Die jungen Fischaugen reagieren kaum, das bin ich gewohnt. Ich beeile mich so gut ich kann und alles ähnelt sehr einer Flucht.
Das ist es letztendlich auch. Ich will zurück in meine Zelle.
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 08:55 Uhr
Kaum habe ich das Fairsell verlassen, werde ich angehalten. Die beiden androgynen Gestalten packen mich und schieben mich nachdrücklich in einen Wagen, der ebenso nichtssagend aussieht, wie sie selbst. Unauffälligkeit scheint sich als gesellschaftliches Optimum endgültig durchgesetzt zu haben. Ich erinnere mich daran, dass es früher anders war. Ebenfalls erinnere ich mich daran, dass mich vor endlosen Jahren jemand fragte, wie ein Kollektiv, das schließlich nach simpelster Gruppendynamik funktioniert, also grundsätzlich primitiv ist, jemals progressiv sein könne. War das Paul? Die Frage kam mir damals ziemlich ketzerisch vor, fragwürdig. Was für ein Widerspruch. Die Ironie ist kaum auszuhalten.
An die Antwort erinnere ich mich nicht mehr. Ich habe zu lange korrekt gedacht … Damals, in den ersten Tagen von Scissors war die Gesellschaft noch ein korrekt-inkorrekter Flickenteppich.
Ich frage, wohin sie mich bringen.
Eine Antwort erhalte ich nicht.
Center for Speech Control. Sprechwart G. Herlinger: Bericht über SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf
Der ehemalige Abonnent sitzt im Warteraum und ist sichtlich verwirrt. Das ist naheliegend und immer so. Wie all die anderen Altabonnenten hat er die Beendigung der Unterstützung für Scissors 2.0 nicht gut verkraftet. Die gemessenen medizinischen Werte zeigen den typischen erhöhten Adrenalinpegel, ausgelöst durch die Unsicherheit.
Bei vielen kam es zu nervösen Beschwerden aller Art, sogar zu ausgeprägten Neurosen. Im Gegensatz dazu hält er sich dann wieder gut. Er zeigte keine aggressiven Ausbrüche. Nicht nach außen, nicht gegen sich selbst. Ganz im Gegenteil zieht er sich wohl immer mehr in sich zurück. Dadurch ist er gut handhabbar.
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