Vorwort VORWORT Eugen Huber, der Schöpfer des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, war eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses und sein Nachlass fand Eingang ins Schweizerische Bundesarchiv in Bern. Unter den Dokumenten befindet sich ein reicher Schatz von Briefen sowie Hubers Agenden mit allerlei privaten Notizen. Linas Tagebücher dagegen sind verschollen und es sind einzig Briefe überliefert, die sie an ihren Verlobten und späteren Gatten schrieb. Keine Biografie ist objektiv, doch in diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass Lina aufgrund der überlieferten Papiere stets durch Eugen Hubers Brille gesehen wird. Ihrem Mann berichtete sie Dinge, von denen sie annahm, sie würden ihn interessieren. Was Lina sonst beschäftigte, wissen wir nicht. Einen Briefwechsel zwischen den beiden gab es zudem nur in Zeiten der Trennung. Bestimmte Lebensabschnitte sind deshalb weniger gut dokumentiert als andere. So kennen wir die schwierigen Kämpfe der Verlobungszeit, während die glücklichen Jahre in Halle kaum schriftliche Spuren hinterliessen. Nach Linas Tod schrieb der einsame Witwer über sieben Jahre lang Lina täglich einen Brief – auch ein Ersatz für die gemeinsamen Gespräche am Mittagstisch. Sie geben einen vielleicht einseitigen, aber faszinierenden Einblick in die Alltagsgeschichte jener Epoche, und sie spiegeln darüber hinaus die Gedanken und Gefühle eines Mannes zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
AUFTAKT AUFTAKT
Hinterlist mit Folgen
TEIL I
Lina Weissert aus Heilbronn
Ausbruch aus Altstetten: Die Grossfamilie Huber
Der Stammheimer «lingg Hauptmä»
Hans Conrad Huber und Anna Widmer – eine tumultuöse Beziehung
TEIL II
Sturm und Drang in Zürich
Bewegtes Familienleben in Zürich und Mutters Tod
Die Bollerei: Linas Lebensschule und zweite Heimat
Frau Keller oder Frau Huber? Werben um Lina
«Ihr Wille allein fehlt noch zur Ausführung»
Zwischen Ebbe und Flut, Hoffnung und Katastrophen
TEIL III
Die «Genferin» oder die Frau nach seinem Bilde
Der «unruhige Schwärmer»
Liebe – Freundschaft –Eifersucht: Otto Stoll
Linas Genfer Alltag
Wissenschaft – nichts als ein ferner Traum?
Verkümmerter Arm und kranke Füsse
Steiniger Weg zum Hochzeitsfest
TEIL IV
Frostiges Zürcher Intermezzo
«Du warst niemals so gerne in Trogen wie ich»
Zwischen Chance und Enttäuschung: die ersten Basler Jahre
Missstimmungen und neue Chancen: die letzten Basler Jahre
Endlose Geldnöte oder: wo blieb die «Besoldung, aus der man in unsern Kreisen leben kann»
Ihre glücklichste Zeit? Lina und Eugen Huber in Halle
TEIL V
Auf der Zielgeraden zum ZGB: die Berner Jahre
Eine ganz und gar unerwartete Tragödie
Lina oder die Sünderin von Bethanien
Dienstbare Geister und die Bewältigung des huberschen Alltags
TEIL VI
Gespräche mit der verstorbenen Lina – Blick durchs Schlüsselloch in Hubers Alltag
Im Schatten der Heimlichkeit – Marieli zwischen Hochschule, Ehe und Tochterpflichten
Hubers zweites Glück: Maria Schuler aus Glarus
Epilog: Leben im Korsett der Konvention – auf dem Weg in eine neue Zeit
Anhang
Anmerkungen
Zeittafel
Bibliografie
Namensregister
Stammbaum
Dank
Eugen Huber, der Schöpfer des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, war eine Persönlichkeit des öffentlichen Interesses und sein Nachlass fand Eingang ins Schweizerische Bundesarchiv in Bern. Unter den Dokumenten befindet sich ein reicher Schatz von Briefen sowie Hubers Agenden mit allerlei privaten Notizen. Linas Tagebücher dagegen sind verschollen und es sind einzig Briefe überliefert, die sie an ihren Verlobten und späteren Gatten schrieb.
Keine Biografie ist objektiv, doch in diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass Lina aufgrund der überlieferten Papiere stets durch Eugen Hubers Brille gesehen wird. Ihrem Mann berichtete sie Dinge, von denen sie annahm, sie würden ihn interessieren. Was Lina sonst beschäftigte, wissen wir nicht. Einen Briefwechsel zwischen den beiden gab es zudem nur in Zeiten der Trennung. Bestimmte Lebensabschnitte sind deshalb weniger gut dokumentiert als andere. So kennen wir die schwierigen Kämpfe der Verlobungszeit, während die glücklichen Jahre in Halle kaum schriftliche Spuren hinterliessen.
Nach Linas Tod schrieb der einsame Witwer über sieben Jahre lang Lina täglich einen Brief – auch ein Ersatz für die gemeinsamen Gespräche am Mittagstisch. Sie geben einen vielleicht einseitigen, aber faszinierenden Einblick in die Alltagsgeschichte jener Epoche, und sie spiegeln darüber hinaus die Gedanken und Gefühle eines Mannes zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
AUFTAKT
Sonntagmorgen, 16. November 1873, an der Schifflände in Zürich: Am Eingang des «Café Boller» – im Volksmund «Bollerei» genannt – meldet sich in aller Frühe Emil Zürcher bei der 22-jährigen Kellnerin Lina Weissert. Er überbringt ihr eine mündliche «Citation» auf das Obmannamt, die Staatsanwaltschaft. Um kein Aufsehen zu erregen, habe er auf eine formelle Vorladung durch den Weibel 1verzichtet. Lina solle sich um acht Uhr auf sein Büro bemühen, um «in einer eiligen Prozedur Auskunft zu geben». Das Obmannamt, keine zehn Minuten von Linas Arbeitsplatz entfernt, liegt am Rand der Zürcher Altstadt. Mit welchen Gefühlen sie sich wohl auf den kurzen Weg machte? Wie sie auf dem Amt eintrifft, empfängt der Jurist Zürcher Lina mit den Worten: «Fräulein, der Mensch wünscht sie zu sprechen, wollen sie ihm Audienz geben.» 2Verblüfft erkennt sie Eugen Huber und macht Zürcher ein Zeichen, er möge weg gehen.
Der 24-jährige Eugen Huber, auch er Jurist, war als Student regelmässiger Gast in der Bollerei, seit Kurzem arbeitet er in Bern. Über Freund Zürcher erhielt er einige Tage vorher endlich ein Bild von Lina, ein Zeichen ihres Wohlwollens, auf das er Jahre gewartet hatte. Erfüllten sich jetzt seine Hoffnungen? Huber mochte nicht schreiben, er wollte Linas Antwort auf der Stelle hören. Während der Fahrt von Bern nach Zürich überlegte er hin und her: Hätte er seiner Angebeteten nicht doch besser einen Brief gesandt? Was, wenn er sie missverstehen und sie ihm einen Korb geben würde? Kurz vor Zürich fiel ihm der rettende Plan ein, wie es anzustellen wäre, um mit Lina allein sprechen zu können. 3Die Samstagnacht verbrachte Huber bei Zürcher und sie heckten den «fidelen Bubenstreich» 4aus, am frühen Sonntagmorgen steht er dann «im kalten Wind» 5und beobachtet von fern die Szene an der Schifflände.
In der Amtsstube kommt Huber sofort zur Sache, bietet Lina das Du an, gibt ihr «halb elend, halb glücklich» 6den ersten Kuss und bittet sie, seine Frau zu werden. Lina, vom Gang der Ereignisse überrollt, lässt alles mit sich geschehen. Huber «ist selig», 7glaubt sich am Ziel seiner Träume, er ist mit Lina verlobt: «Mir kam es vor», schreibt er ihr einen Tag später, «wir gleichen zwei Heimatlosen [und] wie wir auf dem Bureau unsres Freundes mit Küssen den Schwur besiegelten, zusammen uns eine Heimat zu gründen.» 8
Kaum verlobt, hetzt Lina zur Arbeit zurück. Jetzt erst kommen Huber Zweifel. «Als du die Treppe herunter giengst, kam ich mir ganz elend vor, dass ich dich ins Obmannamt gerufen.» 9Fürs Sinnieren bleibt indessen keine Zeit, Zürcher warnt vor der drohenden Ankunft seines Chefs, des Staatsanwalts, die beiden jungen Männer machen sich aus dem Staub.
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