„Warum sollte ich einen Knopf an mein Ohr nähen?“ Verständnislos sah er sie an.
Edwina musste lachen. „Das sagt man bei uns so für ein Funkgerät.“
„Ach so.“
„Und was sind das für Leute, die du beschützt? Politiker oder irgendwelche Berühmtheiten?“ Sie überlegte, ob es auch in der klassischen Musik Superstars gab, die sich Bodyguards leisteten so wie Madonna oder Beyoncé.
„Ja genau. Am liebsten sind mir allerdings Rocksängerinnen mit einer Stimme so mitreißend wie eine Naturgewalt.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Edwina blickte unsicher auf den schmutzigen Fußboden. Sie konnte ihre Stimme selbst nicht gut einschätzen. Kenny lobte sie zwar gern als Rockröhre, aber er war natürlich nicht neutral. Sie hingegen hatte an manchen Stellen so ein dumpfes Angstgefühl, ob sie den nächsten Ton richtig treffen oder den Sprung in eine höhere Lage gut hinkriegen würde. Gesagt hatte sie das allerdings noch niemandem. Von idiotischen Stimmübungen, wie manche Kolleginnen sie machten, hielt Edwina überhaupt nichts. Das war blanker Unsinn, den man in Schulen eingetrichtert bekam, die am liebsten alle Stimmen gleich eintönig machen wollten. So, wie es in der Klassik üblich war. Da klang doch eine Operndiva genau wie die andere. Umso mehr freute sie sich, dass Paul erkannt hatte, wie individuell ihre Stimme war. Sie war sich sicher, sein Lob war ehrlich gemeint. Lachend stand Edwina auf. Die Bahn kam am Leicester Square an und sie mussten aussteigen. Edwina lotste Paul hinaus und führte ihn in die Garrick Street, wo das Simurgh beheimatet war.
„Ich liebe dieses kleine Lokal“, erklärte sie und drückte die Tür auf. Wie wunderbar es hier schon roch! Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen. In einer Ecke fanden sie einen Tisch für zwei Personen, direkt unter einem Wandteppich mit Szenen aus dem alten Persien. In einem filigranen Messingleuchter flackerte eine Kerze und im Hintergrund lief orientalische Flötenmusik.
„Ich habe so etwas noch nie gegessen“, gab Paul nach einem Blick in die Speisekarte zu. „Aber ich habe auch noch nie Deep Purple gespielt. Dieser Abend bringt also in vielerlei Hinsicht etwas Neues.“
Edwina fühlte sich wohl, wenn sie ihm zuhörte. Vielleicht war es dieser leichte Akzent, mit dem er sprach, oder der weiche Klang seiner Stimme. Womöglich aber auch diese eigenartige Traurigkeit, die ihn umwehte. Sie konnte es nicht recht greifen, aber er hatte etwas Tiefsinniges an sich, obwohl bei ihm durchaus immer wieder feiner Humor aufblitzte. So etwas hatte sie bisher nur bei sehr alten Menschen erlebt. Ihre Granny, die vor ein paar Jahren gestorben war, hatte ähnliche Wesenszüge gehabt. An sie zu denken, machte ihr Herz schwer.
„Geht es dir gut?“ Sein Blick war bei ihr. Nur bei ihr. Dabei kam der Ober gerade heran und fragte nach den Getränkewünschen. Paul schien ihn gar nicht wahrzunehmen.
„Alles gut. Ich musste nur an jemanden denken“, sagte sie hastig und bestellte eine Cola, um den peinlichen Moment zu überbrücken. Sie mochte es nicht, wenn jemand Zeichen von Schwäche bei ihr entdeckte. Das Leben hatte sie gelehrt, dass man nur als Starke gut zurechtkam. Ihre Mutter war der beste Beweis. Sie war viel zu schwach gewesen. Zu schwach, um den Avancen von Edwinas Vater zu widerstehen. Zu schwach, um ihn später daran zu hindern, die Familie zu verlassen. Letztendlich auch zu schwach, um den Kampf gegen den Alkohol aufzunehmen. Niemals wollte Edwina so sein. Dann lieber auf Gefühle verzichten, so konnte man zumindest nicht verletzt werden. Dafür war ihr Kenny ganz recht, die Beziehung zu ihm war zwar stürmisch, doch auch reichlich oberflächlich.
„Hast du an jemanden gedacht, der dir sehr nahestand?“
Verflixt, wie kam er auf solche Sachen? „Och, nur meine Oma“, antwortete sie ausweichend. „Aber egal, lass uns bestellen. Magst du es denn würzig?“
Paul wandte sich der Speisekarte zu und wirkte ein wenig verloren. „Ich weiß nicht recht“, sagte er. „Ich kenne eher deutsche Hausmannskost. Kannst du mir etwas empfehlen, bei dem ich nicht am Ende ganz unmännlich mit Tränen in den Augen hier sitze?“
„Mach dir keine Sorgen, die kippen hier kein Chili ins Essen. Aber dafür gibt es jede Menge andere Gewürze, ich liebe das! Wie wäre es mit der Entenbrust in Granatapfelsoße mit Safran-Pistazien-Reis?“
Er nickte schicksalsergeben. Edwina entschied sich für Fisch in Koriander-Tamarinden-Soße. Als die Getränke kamen, hob sie ihre Cola und stieß mit seinem Rotweinglas an. „Auf Heaven’s Nightmare, die künftigen Chartstürmer!“
„Vor allem auf ihre bezaubernde Sängerin.“
Er trank einen Schluck, setzte das Glas ab und ließ seine schmalen Finger über dessen Stiel gleiten. „Du hast mich unfassbar überrascht heute. Ich habe noch nie im Leben eine Stimme wie deine gehört.“
„Wirklich nicht? Manche sagen, ich klinge ein bisschen wie Amy.“ Es kribbelte in ihrem Bauch, wenn er sie so ansah und über ihre Stimme redete. Und das Kribbeln war eines der äußerst angenehmen Art.
„Amy?“
Angesichts seiner fragenden Miene musste sie schon wieder lachen. Das konnte doch nicht wahr sein!
„Es gibt also tatsächlich noch irgendjemanden auf dieser Welt, der noch nichts von Amy Winehouse gehört hat?“
Entschuldigend hob er die Schultern. „Dafür kann ich dir alle klassischen Komponisten vom Frühbarock bis zur Neuzeit aufzählen. Du musst wissen – ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge Sängerinnen kennengelernt, doch keine hat mich so beeindruckt wie du. Da ist so etwas Raues, Ungeschliffenes in deiner Stimme, das immens faszinierend ist.“
Edwina senkte erneut ihren Blick. Dass er so von ihr schwärmte, schmeichelte ihr enorm. Sie wusste, dass ihre Stimme außergewöhnlich war, aber das hieß noch lange nicht, dass sie jedem Zuhörer gefiel. Und Paul hatte schließlich einen völlig anderen Hintergrund als die normalen Zuhörer, die zu den Auftritten der Band anrückten. Er kam aus der Klassik, kannte sich zumindest dort gut aus und hatte mit Sicherheit ein gutes Gehör. Und er fand, dass ihre Stimme etwas ganz Besonderes war. Dieser Gedanke wärmte sie von tief innen heraus. Es war also doch die richtige Entscheidung gewesen, erst gar nicht auf irgendwelche Musikakademien zu gehen, sondern das Singen autodidaktisch zu lernen. So war sie wenigstens nicht weich gespült und glatt gebügelt worden, sondern hatte ihren ganz eigenen Charakter behalten.
Paul sah sie an. Er schien außer ihr keine einzige Person im voll besetzten Lokal wahrzunehmen. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Ihr Lieblingslokal und ein Musiker als Begleiter, der von ihr als Sängerin begeistert war – besser konnte man einen Abend überhaupt nicht verbringen.
„Erzähl mir etwas von dir“, bat sie ihn. „Mit wem spielst du denn, wenn du dich nicht gerade von Kennys Verstärker wegpusten lässt?“
Er nahm noch einen Schluck vom Wein, ganz langsam, als müsse er überlegen. Gerade, als er anfangen wollte zu sprechen, wurde das Essen gebracht.
„Ein Gedicht!“ Genießerisch schloss Paul kurz die Augen, nachdem er probiert hatte.
Doch Edwina ließ nicht locker. Sie fixierte ihn mit ihrem Blick, sodass er schließlich anfing, zu reden.
„Ach weißt du, es ist nichts Besonderes. Ich spiele hin und wieder in der Kirche, manchmal sogar ein Orgelkonzert. Wenn mir danach ist, klimpere ich für mich selbst auf dem Klavier herum. Chopin, Schubert, Beethoven, je nach Stimmung. Das ist eben die Musik, in der ich zu Hause bin.“
Edwina kannte die Namen, hätte aber kein einziges Stück dieser Komponisten nennen können. Wenn er ausschließlich in der Klassik beheimatet war, wie konnte es dann sein, dass er sich so schnell in den Songs der Band zurecht gefunden hatte?
„Als ich im Laden Purple aufgelegt habe – war das wirklich das erste Mal, dass du Rockmusik gehört hast?“
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