1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Sie ließ dieses kleine Meisterwerk auf Pauls Unterarm nicht aus den Augen. Das war unglaublich filigran und richtig sauber gestochen. Der Tätowierer musste ein Könner sein, bei dem selbst sie noch etwas lernen konnte. Vielleicht täuschte sie sich ja doch in diesem Paul? Ein Tattoo hätte sie ihm absolut nicht zugetraut.
„Das ist sozusagen von meinem Arbeitgeber, wenn man so sagen will“, erklärte er. „Eine lange Geschichte. Weißt du, ich komme nicht von hier.“
„Das ist mir klar, dein Akzent ist unüberhörbar. Du bist vom Kontinent, stimmt’s?“
Er nickte. „Deutschland. Und wie gesagt, ich spiele viel Klassik, aber ich bin ein geübter Organist und lerne schnell. Wenn ich in irgendetwas gut bin, dann in der Musik.“
Edwina kaute auf ihrer Lippe. Vielleicht war Deep Purple nur in Großbritannien so bekannt? Und die Deutschen hörten tatsächlich eher andere Sachen? Für einen Augenblick war sie verwirrt.
„Gib mir eine Chance“, durchbrach er ihre Gedanken. „Du kannst mich nach dem ersten Lied von der Bühne jagen, wenn dir mein Spiel nicht zusagt.“
Verflixt, sie brauchten wirklich einen vierten Mann. Da sie nur eine einzige Gitarre hatten, bekamen sie sonst keinen vernünftigen Sound hin. Wer so ein cooles Tattoo hatte, war vielleicht doch kein totaler Spießer.
„Okay. Wir versuchen es. Sei heute Abend um acht im Black Odeon. Und jetzt raus mit dir, ich habe Hunger.“
4
Puh! Als Pasiel sich zur Camden High Street vorgekämpft hatte, musste er sich erst einmal gegen eine Hauswand lehnen und den Tornado seiner Gedanken zur Ruhe bringen. Von wegen: Eddie, ein junger, gläubiger Arzt, der einen Harfenspieler suchte! Die Briten hatten mit ihrem Kandidaten genauso getrickst wie Michael und Gabriel mit dem deutschen. Eine Anstellung im Tätowierladen als „medical business“ zu bezeichnen, war schon fast eine Unverschämtheit.
Außerdem war ihm völlig unverständlich, wieso auf dem Zettel gestanden hatte, dass Edwina gläubig sei. „Believes in heaven“, murmelte er vor sich hin und schüttelte den Kopf. Davon war nun wirklich nichts zu spüren gewesen. Von einer braven Kirchgängerin war sie so weit entfernt wie Strawinsky von Vivaldi. Auch die Sache mit der Harfe blieb ihm ein Rätsel. Dass Orgel ganz offensichtlich ein Begriff für ein modernes Tasteninstrument war, das man in kleinen Ensembles spielte, war ihm inzwischen klar. Aber wie passte eine Harfe in diese sogenannte „Band“ von Edwina? Bei der Art von Musik, die sie ihm auf diesem modernen Grammophon vorgespielt hatte, würden zarte Harfenklänge sicherlich untergehen.
In Gedanken versunken schlenderte Pasiel die winterliche Chalk Farm Road entlang. Auf der rechten Seite gab es eine Menge Cafés und Läden, auch Flohmarktbuden waren aufgestellt. Manche davon verkauften Mode, wie er sie noch gesehen hatte. Andere boten Dinge feil, die ihm völlig fremd waren. Zu seiner Zeit hatte sich kein stilbewusster Käufer hierher verirrt. Soweit er sich erinnerte, waren nur die Dienstboten in diesen Teil der Stadt gekommen, um Obst oder Gemüse zu kaufen. Allerdings hatten sich seine Besuche in London nie über längere Monate erstreckt, außerdem war er stets vollauf mit seiner geschäftlichen Mission ausgelastet gewesen.
Doch natürlich hatte sich in den letzten hundert Jahren nicht nur London selbst massiv verändert, sondern auch die Menschen, die hier lebten. Von Handys hatte er im Irdischen Bulletin natürlich ein paar oberflächliche Dinge gelesen, aber dass so viele Spaziergänger diesen Apparat in der Hand hatten und nicht damit telefonierten, sondern mit dem Finger darüber glitten, verwunderte ihn nun doch. Männer trugen bunte Hosen und manche hatten ihre Augen geschminkt, als wollten sie in einem Varietétheater auftreten. Frauen trugen trotz der Kälte kurze Röcke über dicken Strumpfhosen und stellten ihre Beine zur Schau.
Apropos Frauen: Er hatte durch einige Schaufenster geschielt. Sie schnitten Haare, verkauften Motorräder, schleppten Kästen mit Bierflaschen. Oder tätowierten halbnackte Männer. Pasiel war sich nicht einmal sicher, ob dieser Rocco tatsächlich ein Matrose gewesen war.
Er seufzte tief. Sein Auftrag war bei Weitem nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Trotzdem würde er sich der Herausforderung stellen. Er war hier, um als Held nach oben aufzufahren, und genau das würde er tun. Entschlossen schritt er voran. All denen im Himmel, die ihn nicht ernst nahmen, würde er beweisen, dass er kein mozartumwehter Weichling war.
Zuallererst musste er sich mit der modernen Musik vertraut machen. Pasiel sah sich um. Auf der anderen Straßenseite waren auf den Gebäuden, die wie alte Markthallen wirkten, Reklameschilder angebracht worden. Dahinter versteckte sich ganz offenkundig eine Art Kaufhaus. Mit Abigail, seiner Gattin, war Pasiel damals mehrere Male im Liberty gewesen, dem großen Department Store an der Regent Street. Das wunderschöne Fachwerkhaus hatte jedoch völlig anders ausgesehen als dieses schmucklose Gebäude, das als Einkaufsparadies angepriesen wurde.
Da eines der Schilder eine Schallplatte als Firmenzeichen hatte, beschloss Pasiel, sich die Läden näher anzusehen. Als er das Gebäude betrat, wurde er von Lärm und dem Geruch gegrillter Zwiebeln empfangen. Dann sah er etwas, das ihn sehr entzückte. Eine Treppe, die sich bewegte! Ihm fiel ein, dass diese großartige Erfindung im Jahr 1900 auf der Weltausstellung in Paris vorgestellt worden war. Damals war er gerade erst zwanzig Jahre alt gewesen und seine Eltern hatten ihn leider nicht nach Frankreich reisen lassen, weil er im Unternehmen gebraucht worden war.
Er ging ein paar Schritte zur Seite und beobachtete einige Minuten lang, wie dieses Wunderwerk der Technik funktionierte. Danach wollte er es unbedingt selbst ausprobieren. Vorsichtig trat er auf die Stufe, hielt sich am Handlauf fest und schon trug ihn die fahrbare Treppe nach oben. Es war großartig! Pasiel fuhr auf der anderen Seite gleich wieder hinunter und anschließend ein weiteres Mal hinauf. Auch wenn die Musik im 21. Jahrhundert gänzlich grausam war, ein paar vorzügliche Errungenschaften hatte die Neuzeit offensichtlich mit sich gebracht. Nach der dritten Runde auf den rollenden Treppen machte er sich endlich auf den Weg in Richtung Plattengeschäft.
Ein junger Kerl mit völlig verfilzten Haaren kam auf ihn zu, kaum dass er den Laden betreten hatte. Erst wollte Pasiel auf Abstand gehen, denn solche Leute hatten früher auch Flöhe und Läuse mit sich herumgetragen. Aber dann fiel ihm ein, dass das vielleicht nur eine moderne Haartracht war.
„Hi, was suchst du?“, fragte der Verkäufer.
Pasiel entschied sich, bei der Wahrheit zu bleiben. „Ich bin Organist und kenne nur die großen Meister. Nun will es aber das Schicksal, dass ich in einem Ensemble spiele, das neuere Musik zum Besten gibt. Ich würde gerne einigen Stücken lauschen, bei denen eine Hammond-Orgel zum Einsatz kommt. Die Sängerin sagte etwas von …“ Er überlegte einen Augenblick. „… Türen und was mit Lila. Kann das sein?“
Der Zottelige lachte. „Du meinst die Doors und Deep Purple. Komm mit, ich leg dir da ein paar Sachen auf.“
Er marschierte zu einem Tresen, auf dem ein Kopfhörer lag. Die Anlage daneben hatte nur einen schmalen Schlitz. In diesen schob der Verkäufer unter Pasiels aufmerksamen Blicken eine silbern glänzende Scheibe. Ein paar Sekunden später kamen schon die ersten Töne aus dem Kopfhörer, den er sich aufgesetzt hatte. Erneut zuckte Pasiel zusammen, als das Lied richtig anfing. Es war ein anderes als das, das Edwina ihm vorgespielt hatte, aber die Gitarre gab ebenso metallische Schmerzenslaute von sich und selbst der Kontrabass klang so, als hätte ihn die Elektrizität größenwahnsinnig gemacht.
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