Er straffte die Schultern und sah ihr direkt in die Augen. „Das tue ich sehr wohl“, erklärte er mit fester Stimme. „Ich beherrsche nicht nur Musikinstrumente! Das werde ich dir und allen anderen beweisen, die mich für einen nutzlosen Musiker ohne Rückgrat halten.“
Energisch raffte er seine Noten zusammen und sprang auf. Ohne Amia noch einen einzigen Blick zuzuwerfen, marschierte er an ihr vorbei und direkt in das Verwaltungsgebäude.
„Ich brauche keine weitere Bedenkzeit“, schleuderte er den drei Erzengeln entgegen. „Mit Freuden stelle ich mich der Herausforderung und werde zum Guardian!“
Alles lag plötzlich ganz klar vor ihm. Wenn er es schaffte, den Wettbewerb zu gewinnen, würde ihn kein Putzengel dieses Himmels jemals wieder vom Klavier verscheuchen. Und niemand würde es wagen, ihm irgendwelche ungeliebten Aufträge zu erteilen. Ja, sogar die jungen Chorengel würden vor Ehrfurcht erstarren, wenn der Gewinner des Contests sich für sie ans Piano setzte. Als erfolgreicher Schutzengel bekam man nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch jede Menge Respekt. Er wäre nicht mehr länger nur der „Musikus“, sondern ein waschechter Held.
Und er war mehr als bereit für diese Aufgabe!
Allerdings fragte er sich, wie das funktionieren sollte. Man wurde schließlich nicht von heute auf morgen Schutzengel. Davor standen eine lange Ausbildung, diverse Einsätze, schriftliche Prüfungen und eine zwölfseitige Abhandlung über Moral im Erdeneinsatz, die jeder Guardian zu verfassen hatte. Außerdem gab es eine große Ernennungszeremonie, bei der die neuen Guardians der Himmelsgemeinde vorgestellt wurden und ihre Plakette bekamen. Am Ende der Zeremonie stand das feierliche Einbrennen eines uralten Zeichens auf dem Unterarm. Das alles war doch gar nicht hinzubekommen in der kurzen Zeit, die sie hatten. Noch heute fand die Aussendung der Wettbewerbsteilnehmer statt!
„Ich wusste, wir können auf dich zählen.“ Michael klopfte ihm auf die Schulter, fast genauso, wie Amia es getan hatte.
„Aber wie soll das ablaufen?“, fragte Pasiel.
„Wir werden das Verfahren für dich etwas beschleunigen.“ Gabriel setzte ein aufmunterndes Lächeln auf.
Umgehend bekam Pasiel eine Gänsehaut. Ausgerechnet Gabriel, der oberste Regelwächter, wollte die eisernen Verordnungen beugen? Sein Magen zog sich zusammen.
„Wir geben dir eine Kurzanleitung mit, darin ist alles Wichtige zusammengefasst. Die Sache mit der Moral weißt du ohnedies. Du hast dich bisher im Himmel als gänzlich verlässlich und regeltreu gezeigt. Wir vertrauen dir.“
„Ja, alle hier vertrauen dir!“, fügte auch Michael hochtheatralisch hinzu. „Wir legen unser Schicksal in deine Hände. Du wirst uns nicht enttäuschen, das fühle ich tief in meiner Brust. Rette unsere Ehre und gewinne den Contest. Für dich, für uns, für deinen Himmel!“
Angesichts so dramatischer Töne stellten sich bei Pasiel alle Nackenhaare auf. Doch zum Nachdenken blieb keine Zeit. Erstarrt beobachtete er, dass Uriel näher kam, die stinkende Kräuterpfeife noch immer im Mund.
„Wohlan, lasset uns beginnen“, schnarrte er, wobei er eine Rauchwolke ausstieß. „Deinen Arm!“
Gehorsam streckte Pasiel seine rechte Hand vor. Uriel schob den Ärmel nach hinten und hielt Pasiels Unterarm fest. Die beiden anderen Erzengel positionierten sich in andächtigem Schweigen rechts und links neben ihm.
Jeder der drei hob seinen Arm und legte seine leicht gekrümmte rechte Hand auf eine Stelle kurz unterhalb Pasiels Ellbogens. Die drei Hände bildeten einen Hohlraum und in diesen hinein blies Uriel den hellgrauen Rauch seiner Kräuterpfeife. Auf Pasiels Haut begann es höllisch zu kribbeln, aber er hielt der Prozedur tapfer stand. Die drei Erzengel schlossen die Augen und murmelten ein uraltes Gebet, während seine Haut immer heißer wurde. Nach ein paar Minuten nahmen sie ihre Hände weg. Erstaunt musterte Pasiel die Stelle an seinem Arm. Direkt unterhalb seines Ellbogens hatten sich ringförmig eine Reihe altertümlicher Schriftzeichen ausgebreitet, die er nicht lesen konnte. Umkränzt wurden die Zeichen von einer Bordüre aus winzigen Federn, ganz fein und zart, die nun für alle Zeit in die Haut gebrannt waren.
„Nun denn, du bist gerüstet für deinen Einsatz, Schutzengel. Unser Segen sei mit dir!“
Alle drei streckten die Arme aus und murmelten erneut Unverständliches. Auch wenn es durchaus faszinierend war, die Erzengel so harmonisch vereint zu erleben, wurde es Pasiel ein wenig mulmig zumute. Aber es war zu spät, doch noch einen Rückzieher zu machen. Nun lag die Hoffnung der gesamten himmlischen Chefetage auf ihm und er gedachte, diese gänzlich zu erfüllen.
Nach einer kurzen Stunde und einer weiten Reise sah Pasiel sich überrascht um. Er war mitten in London gelandet, wie erwartet. Schutzengel wurden bei der Entsendung stets in der Nähe des Schützlings abgesetzt. Doch er hatte mit einem Krankenhaus gerechnet oder zumindest mit einem Ärztehaus, schließlich arbeitete der fromme Eddie laut Zettel im medizinischen Bereich. Stattdessen hatte es Pasiel auf eine Seitenstraße von Camden Town verschlagen, wie die Straßenschilder verrieten. Um ihn herum herrschte reges Treiben. Offenbar fand auf der nächstgrößeren Straße gerade ein Flohmarkt statt. Menschen in seltsamer Kleidung wanderten herum, viele hatten ein tragbares Telefon in der Hand.
Pasiel hatte regelmäßig das von Gabriel herausgegebene „irdische Bulletin“ über die neusten Entwicklungen auf der Erde gelesen und wusste deshalb gut Bescheid über Handys, die politische Lage sowie aktuelle Themen.
Wie schon seit Jahrtausenden bei einer Entsendung üblich, hatte man ihn automatisch mit Geld und typischer Kleidung ausgestattet. Er schlug den Kragen des Wintermantels hoch, denn ein eisiger Wind fegte durch Londons Straßen. Selbstredend würde er sich „Paul“ nennen, was sowieso sein Erdenname war. Jetzt musste er nur noch diesen Eddie finden.
Ob hier vielleicht eine Kirche in der Nähe war? Es könnte ja sein, dass sein Schützling gerade betete. Nicht umsonst suchte der Mann einen Organisten. Vielleicht leitete er den Kirchenchor hier in der Nachbarschaft?
Pasiel ging ein paar Schritte, wobei ihm niemand der Passanten besondere Beachtung schenkte. Alles lief wie am Schnürchen. Mit einem Mal breitete sich große Zuversicht in ihm aus. Er kam hier unten gut zurecht und der Auftrag war sicher auch kein unlösbares Problem. Sein Englisch war gut, die Musik sein Leben und mit einem gebildeten Mediziner konnte er sich bestimmt hervorragend unterhalten. Ihm würde es mit Leichtigkeit gelingen, diesen Eddie zu beschützen. Und dann, bei seiner heldenhaften Rückkehr in den Himmel – natürlich mit der Trophäe im Gepäck – würde er ein gefeierter Star sein und von allen Mitengeln mit tiefem Respekt behandelt werden. Auch von Amia. Pasiel lächelte freudig.
Voll Tatendrang sah er sich um und wählte das nächstbeste Geschäft aus, um sich nach Eddie zu erkundigen, der hier sicher irgendwo bekannt war. Energisch drückte er die Ladentür auf, marschierte hinein und begann sofort zu sprechen.
„Guten Morgen und Pardon für die Störung. Ich befinde mich auf der Suche nach einem gewissen Eddie Stevenson. Hätten Sie die Güte, mir mitzuteilen, ob Sie diesen Mann womöglich kennen?“
Erst als er das ausgesprochen hatte, sah er sich um. Grundgütiger, wo war er denn hier gelandet? Pasiel schluckte.
Auf einer Art Bahre lag ein sehr lebendig wirkender, glatzköpfiger Seemann, dessen Körper großflächig mit Tätowierungen verziert war. Dieser Matrose sah aus, als wolle er just in diesem Moment auf eine junge Frau losgehen, die zwischen seinen Beinen saß. Ihr zierlicher Körper steckte in einer enganliegenden Lederhose und einem grauen Shirt, die Haare waren kurz geschnitten, wie man es sonst nur von Soldaten kannte. Am Nasenflügel glänzte ein Edelstein, dessen Funkeln jedoch gegen das wütende Blitzen ihrer grünen Augen verblasste. In der einen Hand hielt sie ein sirrendes, spitzes Gerät, dessen Nadel drohend auf den Seemann gerichtet war, ihre andere Hand umschloss das nackte Geschlechtsteil des Matrosen.
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