Er hatte den tonalen Bogen noch nicht ganz zu Ende gespannt, da beendete Kenny das Hammond-Solo abrupt, indem er zu einem eigenen ansetzte. Er würgte die Gitarre, misshandelte die Saiten, als wolle er seinem Instrument den Garaus machen, verhedderte sich in viel zu schnellen Läufen und baute eigenartig gedehnte Noten ein, die Pasiel leichten Kopfschmerz verursachten. Das Solo passte nicht sonderlich gut zur etwas düsteren Stimmung des Songs, der eher ruhig dahinglitt wie ein barocker Kanon. Kennys Gitarrenspiel mochte die Zuhörer beeindrucken, wirkte aber bei diesem Stück deplatziert, fand Pasiel. Aber was wusste er schon, sicher hatte er noch kein gutes Gespür für die moderne Rockmusik.
Schon beim Abschlussakkord brandete Beifall auf.
Überrascht blickte Pasiel nach unten in den Zuschauerraum. Der hatte sich tatsächlich schon zur Hälfte gefüllt.
„Willkommen, alle zusammen!“, rief Edwina ins Mikro. „Super, dass ihr hier seid und mit uns einen geilen Abend verbringen wollt. Wir werden euch mit unseren eigenen Nummern und mit ein paar Covern ordentlich einheizen. Heaven’s Nightmare lassens immer krachen!“
Pasiel fiel fast von dem wackligen Stuhl, den man hinter seine Orgel gestellt hatte. Heaven’s Nightmare - das war also der Name der Band!
Jetzt dämmerte es Pasiel, was mit dem Hinweis auf dem Zettel gemeint war, dass Eddie Stevenson an den Himmel glaube. Am liebsten hätte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen, doch er ließ seine Finger lieber auf den Tasten. Natürlich glaubte Edwina an den „Himmel“ – nämlich an den Erfolg ihrer Band. Das war echt ein gemeiner Trick der englischen Wettbewerbsteilnehmer gewesen. Aber egal – Pasiel war auf dem besten Weg, seine Mission zu erfüllen. In die Band hatte er es jedenfalls schon geschafft und das war nun mal die Voraussetzung, um Edwina beschützen zu können.
„Weiter geht es mit Rehab , da muss unser neuer Keyboarder ein bisschen tricksen, damit sich seine Hammond wie ein Bläsersatz anhört“, kündigte Edwina an und hängte sich eine alte akustische Gitarre um. Offensichtlich steuerte sie zu manchen Liedern noch den Rhythmus bei.
Das gefiel Pasiel gar nicht. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was bei diesem Song auf ihn zukommen würde, und wartete erst einmal ab, welche Akkorde Kenny vorgab. Der schnallte seinem Gitarrenhals eine Art Metallklammer um, offenbar deshalb, weil die Akkorde der gewünschten Tonart dann einfacher zu greifen wurden. Gespannt wartete Pasiel, was nun kommen würde. Die Gitarre spuckte jaulend ein paar Töne aus, die nach Es-Dur klangen. Probeweise versuchte Pasiel einen kleinen Akzent in passendem B-Dur, hatte aber immer noch keine Vorstellung davon, wohin der Song sich entwickeln würde.
Da setzte Edwinas Singstimme ein. Pasiel rutschte beim Akkord von den Tasten ab, denn so etwas hatte er noch nie gehört. Rau, kantig, kehlig und unsauber, jedoch durch ihre wilde Art extrem faszinierend. Er kannte samtige Mezzosoprane und herrlich klare Altistinnen, aber so eine rohe Stimme war ihm völlig fremd. Einerseits sträubten sich seine Nackenhaare, weil Edwina so unsauber intonierte, andererseits kroch sie ihm mit ihrer derben Leidenschaft unter die Haut. Es war eine unfassbar intensive Mischung aus Lässigkeit, schrecklichem Banausentum und unwiderstehlicher Faszination.
Sie sang von einer Entziehungskur und ihrem Daddy, aber Pasiel hörte kaum auf den Text. Wie in Trance sah er Edwina an, musterte ihre aufreizenden Bewegungen, saugte das dunkle Timbre ihrer Stimme in sich auf. Er war so abgelenkt, dass er aus Versehen die Tonart wechselte und einige grobe Schnitzer hineinspielte, aber das kümmerte ihn nicht. Eine Sache war ihm nämlich völlig klar: Diese Stimme brauchte Führung. Sie war ein Rohdiamant, rau und ungeschliffen, der – wenn er einmal blank poliert wäre – über alle Maßen strahlen würde.
Pasiel lächelte in sich hinein. Für so etwas war er genau der richtige Mann. Nicht umsonst bildete er schon seit über hundert Jahren bei den himmlischen Chören die Engelsstimmen aus. Er würde mit Edwina hart arbeiten, dann könnte sie eine der ganz Großen werden.
„Was spielst du für einen Scheiß?“, riss Kenny ihn aus seinen rosigen Zukunftsplänen. Der Gitarrist war nah an ihn herangetreten und funkelte ihn drohend an, während er die letzten Akkorde des Stückes anschlug.
„Ich musste erst reinkommen“, verteidigte sich Pasiel. Mehr Zeit blieb zum Glück nicht für Bühnenkonversation, denn das Lied war aus und die Leute klatschten frenetisch.
Edwina verbeugte sich kurz, wobei sie dem Publikum tiefe Einblicke in ihr Dekolleté gewährte. Als Oberteil trug sie etwas, das Pasiel an die geschnürten Corsagen unter früheren Ballkleidern erinnerte. Nur dass die Damen zu seiner Zeit eben noch das Kleid darüber gezogen hatten, während Edwina ausschließlich mit diesem Stück Unterwäsche angetan auf der Bühne stand. Allerdings musste er zugeben, dass er diese neue Mode, die ihren Körper auf vorteilhafte Weise betonte, durchaus reizvoll fand.
Sie spielten ein paar Eigenkompositionen, die aber so einfach gestrickt waren, dass sie Pasiel vor keine großen Herausforderungen stellten.
„Ich möchte euch die Band vorstellen“, sagte Edwina nach dem fünften Song ins Mikrofon und rief nacheinander Brian und Kenny auf, bevor sie ihren eigenen Namen nannte.
Er war als Letzter dran. „Paul ist unser Neuzugang und springt hier total ins kalte Wasser. Wir hatten nicht mal die Gelegenheit, miteinander zu proben. Dafür schlägt er sich total tapfer, finde ich. Such dir was aus, Paul, was sollen wir spielen?“
Sie sah ihn auffordernd an. Obwohl Pasiel fürchtete, Kenny würde sich wieder das Mikro greifen, entschied er sich für das Stück, das er als allererstes der modernen Rockmusik gehört hatte.
„ Hush von Deep Purple“, rief er und Edwina nickte zustimmend.
Kenny drehte an ein paar Knöpfen des Koffers herum, und als er das kleine Plättchen über die Saiten schrammen ließ, klangen sie genauso verzerrt wie auf der alten Platte, die Pasiel im Tätowierstudio so erschreckt hatte. Pasiel ließ sich nicht lumpen und griff ebenso beherzt in die Tasten dieses seltsamen Stromklaviers, das man hier Orgel nannte. Der Rhythmus des Schlagzeugs dröhnte in seinen Ohren, die klirrende Gitarre durchdrang den Saal bis in den letzten Winkel und sägte an seinen dünnen Nervenseilen.
Edwinas Stimme setzte ein, geheimnisvoll und lockend durch ihr dunkles Timbre, tief berührend durch ihre Rohheit. Obwohl sie den Text sang, den Pasiel von der CD kannte, interpretierte sie den Song doch auf eine ganz eigene Art. Das machte ihm Mut, bei seinem langen Solo auch eigene Ideen einzubringen. Er tauchte in die Harmonien ein, verwandelte sie mit seinen Anschlägen, jagte das Stück durch vielfältige Höhen und Tiefen. Als er sich bereits etwas vom Grundthema entfernt hatte, fiel ihm ein schräges Scherzo von Chopin ein, das sich hervorragend in die Struktur der Komposition einfügte. Spontan baute er einige Zeilen daraus ein.
Wie lange er seinen Solopart ausdehnte, war ihm nicht bewusst. Wie so oft, wenn er am Klavier saß, vergaß er darüber Raum und Zeit. Erst als Kenny vor ihm stand, die Gitarre wie eine drohende Waffe auf ihn gerichtet, beruhigte er sein Spiel und fand wieder zu gemäßigten Akkorden zurück.
Pasiel zuckte zusammen, weil aus dem Zuschauerraum ohrenbetäubende Pfiffe und lautes Gejohle kamen. So ein Unglück! Er hatte es vermasselt. Wie war er nur auf den Gedanken gekommen, dass er seinen Lieblingskomponisten in eines der modernen Rockstücke einbauen konnte? Kein Wunder, dass ihn das Publikum auspfiff. Er wagte nicht, in die Menge zu schauen, erhaschte aber einen Blick auf Edwina, die ihn anstrahlte. Dann vollführte sie eine Geste, die er nicht kannte: Sie zeigte mit der Faust auf ihn und streckte dabei den Daumen nach oben heraus. Verwirrt sah er ins Publikum und erkannte, dass viele auf ihn schauten und ihm enthusiastisch zuklatschten. Das durfte nicht wahr sein! Hieß das, dass den Leuten sein Solo gefallen hatte?
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