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III Heuristik: Sozialismus – von der Wissenschaft zur Utopie
Nun kann es an dieser Stelle nicht um eine strenge Werkexegese gehen, die systematisch rekonstruiert, was Marx, Engels und ihre zahlreichen Interpret:innen zu Sozialismus und Kommunismus geschrieben haben. Ich beschränke mich darauf, Kriterien für eine Heuristik zu entwickeln, mit deren Hilfe sich tradierte von zeitgemäßen Sozialismen unterscheiden lassen. Als historischer Ausgangspunkt für dieses Vorhaben eignen sich Überlegungen, die Friedrich Engels in der Spätphase seines Lebens anstellte, als sozialistische und sozialdemokratische Parteien ebenso wie die Gewerkschaften sich anschickten, Massenorganisationen zu werden.
Beginnen wir unsere Entdeckungsreise in Sachen Sozialismus deshalb im späten 19. Jahrhundert. 1880 erschien, zunächst in französischer Sprache, eine Broschüre mit dem anspruchsvollen Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.1 Als Grundlage dienten drei Kapitel aus dem sogenannten Anti-Dühring2 – einer von Friedrich Engels verfassten Streitschrift, die sich gegen den Privatgelehrten und Verfechter eines antimarxistischen »Sozialismus des arischen Volkes«, Herrn Eugen Dühring, richtete. Die Intervention überlebte den Gegenstand ihrer Kritik und trug erheblich zur Popularisierung von Marx’ Theorie bei. Heute gilt das Bemühen, die von Hegel entliehene Dialektik nicht nur auf die Geschichte, sondern auch auf Mathematik und Naturwissenschaften zu übertragen, vielen als besonders dogmatischer Versuch, die Welt nach abstrakten Bewegungsgesetzen modellieren zu wollen. Sozialismus, so ein verbreiteter Vorwurf, werde zum Resultat eines vorprogrammierten geschichtlichen Verlaufs erklärt, den zu vollenden ausschließlich das revolutionäre Proletariat berufen sei.
Ohne Zweifel finden sich in Engels Schrift Formulierungen, die als Belege für ein teleologisches Geschichtsverständnis interpretiert werden können. Es sind aber auch völlig andere Lesarten jener Artikelserie möglich, die in der zitierten Broschüre als zusammenhängendes Ganzes präsentiert wird. Schon die ersten Zeilen stellen klar, dass der moderne Sozialismus »seinem Inhalt nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie« ist. 3Die enge Koppelung von gesellschaftlichen Widersprüchen und sozialistischer Vision dient der Abgrenzung von einem utopischen Denken, dessen Anhänger den Sozialismus als »Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit« betrachten. Diese Wahrheit, so Engels süffisant, brauche »nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern«. Sie sei »unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung«; »bloßer Zufall« entscheide, wann und wo sie entstehe. 4Ewige Wahrheiten, die noch dazu bei »jedem Schulstifter verschieden« 5ausfallen, konfrontiert Engels deshalb mit einem wissenschaftlichen Anspruch, der den Sozialismus aus realen Bewegungen der Gesellschaft heraus zu begreifen beabsichtigt. 6
So verstanden, ist Sozialismus eben kein unabänderliches Endziel, das im Gang der Geschichte bereits angelegt wäre. Weder handelt es sich um ein geschlossenes, unabänderliches Theoriegebäude noch um ein starres Gesellschaftsmodell. Was Sozialismus sein kann oder sein soll, ändert sich mit der Entwicklung der kapitalistischen Formation und den Gegenbewegungen, die sie hervorbringt. Das ist der Grund, weshalb Engels sich, auch hierin seinem kongenialen Partner Marx eng verbunden, bei der genauen Beschreibung sozialistischer Gesellschaften zurückhält. Weil der Kapitalismus »nichts« ist, wenn er nicht in Bewegung ist 7, wäre auch der Sozialismus missverstanden, würde er als fertiges Rezept begriffen, das soziale Bewegungen nur noch zuzubereiten hätten. Eher trifft das Gegenteil zu. So wie die Gesellschaft stetem Wandel unterliegt, muss sich auch die Rezeptur, müssen sich Ziele, Organisationsformen und Wege des Sozialismus verändern, um systemische Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen erfolgreich zu überwinden.
Deshalb kann es, wie Engels immerhin andeutet, nicht bei dem einen Sozialismus bleiben. Sofern es wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, muss, das sei hinzugefügt, auch das S-Wort zwingend im Plural buchstabiert werden. Den Variationen des Kapitalismus entsprechen diverse Sozialismen. Das galt bereits für das Industriezeitalter und gilt für sozialistische Visionen am Beginn des 21. Jahrhunderts in besonderer Weise. Die Erstarrung und mitunter auch Pervertierung marxistischer Sozialismusvorstellungen in repressiven staatsbürokratischen Systemen hat, ebenso wie der Zusammenbruch dieser Herrschaftsvarianten und der Verschleiß konkurrierender sozialdemokratischer Konzeptionen, dazu geführt, dass Sozialismus heute wieder zur Utopie werden muss, um politisch wirken zu können.
Gänzlich falsch wäre es indes, das als bloßen Rückschritt deuten zu wollen. 8Die Sozialismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren Kinder der ersten industriellen Revolution. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts werden ebenfalls Kinder einer Produktivkräfte-Revolution sein, die sich nun aber unter völlig anderen Vorzeichen vollzieht als ihre historischen Vorläufer. Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen, so die hier vertretene These, ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen . Sie entstehen zumindest in den frühindustrialisierten Ländern, künftig mehr und mehr aber auch in großen und kleinen Schwellenländern, aus der Kritik an wirtschaftlich-technischer Über produktivität. Zwar rebellieren auch sie gegen die Herrschaft des Kapitals, doch das nicht allein wegen der Ausbeutung von Lohnarbeit. Die Sozialismen des 21. Jahrhunderts präsentieren sich als Alternative zu einem »Imperialismus gegen die Natur« 9, wie ihn Karl Marx in seinen mittlerweile veröffentlichten Exzerptheften brandmarkte. Sie attackieren die Ökonomie der billigen Güter 10und mit ihr die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten, und sie beanspruchen, gleichgewichtig mit der Beseitigung von Klassenherrschaft, eine Überwindung aller patriarchalisch, rassistisch oder nationalistisch legitimierten Herrschaftsmechanismen anzustreben. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Naturverhältnisse beinhalten sie vor allem die Suche nach einem Notausgang, nach Auswegen aus einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise, die das Überleben menschlicher Zivilisation berührt. 11
Das elementare Dreieck des Sozialismus
Gründe für einen Neosozialismus gibt es viele. Doch welche gesellschaftlichen Verwerfungen verlangen nach einer ökologisch-sozialistischen Vision? Die Beantwortung dieser Frage führt erst einmal zum ursprünglichen marxistischen Sozialismus-Verständnis zurück. In der zitierten Broschüre begründet Friedrich Engels die Notwendigkeit einer sozialistischen Transformation hauptsächlich mit dem Konflikt zwischen »gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung«.12 Es herrsche »Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion«, und dennoch folge die wirtschaftliche Entwicklung den Zwängen der Konkurrenz, die sich als »blindwirkende Naturgesetze« 13hinter dem Rücken der Produzenten durchgesetzt hätten. Diese Zwänge bewirkten, dass die Produkte jene beherrschten, die sie herstellten. Erst die Aufhebung privatkapitalistischer Aneignung könne den gesellschaftlichen Reichtum, den die Produktivkraftentwicklung ermögliche, für die Entfaltung der Fähigkeiten aller Menschen erschließen.
Bis es so weit ist, hemmt die Aneignungslogik der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse laut Engels die Vergesellschaftungslogik der Produktivkraftentwicklung. Sozialismus ist demnach die gesellschaftliche Formel, mit deren Hilfe sich die Aufhebung des Dauerkonflikts zwischen kollektiver Produktion und privater Aneignungen politisch zuspitzen lässt. Aus Engels’ Kapitalismusanalyse ergibt sich, was als elementares Dreieck des Sozialismus bezeichnet werden kann. Das Privateigentum an Produktionsmitteln muss überwunden und durch kollektiv-gesellschaftliches ersetzt werden, um die Fesseln zu beseitigen, die die Produktivkraftentwicklung hemmen. Nur diese Umwälzung der Eigentumsverhältnisse erlaubt es, die gesellschaftliche Kontrolle über den Produktionsprozess zurückzugewinnen, indem er von den Arbeitenden selbst organisiert und an gemeinschaftliche Bedürfnisse rückgebunden wird. Hauptziel der Koordinaten im elementaren Dreieck des Sozialismus ist »substanzielle Gleichheit«. 14
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