Die Neoliberalen haben vorgemacht, dass es politischen Philosophien ähnlich ergehen kann wie dem Neo-Soul. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig am Boden, hatte sich der Wirtschaftsliberalismus in neuem Gewand zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einigen Teilen der Welt de facto als eine Art Staatsreligion etabliert. Weder die Parteien mitte-rechts noch diejenigen mitte-links stellten die grundlegenden Koordinaten eines ansonsten variantenreichen Paradigmas – Primat der Marktkoordination, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Freihandel, Privatisierung, Steuersenkungen, Haushaltsdisziplin und Flexibilisierung der Arbeitswelt – grundsätzlich infrage. Der Aufstieg des neuen Marktradikalismus hatte in kleinen Zirkeln begonnen, die sich untereinander durchaus bekämpften. Mit dem Ordoliberalismus, der Wiener Schule eines Friedrich von Hayek oder den sogenannten Chicago-Boys um Milton Friedman sind Netzwerke entstanden, die in der Ökonomik Paradigmen setzten und die Politikberatung dominierten.
Warum sollte dem Sozialismus nicht Vergleichbares gelingen? Ausgerechnet in einem Land, dessen bürgerliche Öffentlichkeit Sozialismus in all seinen Schattierung lange Zeit mit dem Vorhof zur Hölle assoziierte, haben die Democratic Socialists um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez vorgemacht, wie sich mit dem S-Wort erfolgreich Politik gestalten lässt. Offenbar ist die Praxis diesbezüglich weiter als die Theorie. Gleichwohl, ›Neosozialismus‹ klingt sperrig, für das politische Handgemenge ist der Begriff untauglich. 10Erik Olin Wright nennt ein weiteres Argument, das gegen eine Verbindung von Neo und Sozialismus spricht und eine andere Wortkombination an deren Stelle setzt. In den USA ist es die äußerst populäre Beifügung democratic , die dem S-Wort gerade bei jungen Leuten den Schrecken nimmt. 11In Kontinentaleuropa und Deutschland liegen die Dinge anders. Hier ist die distinktive Kraft eines demokratischen Sozialismus gering. Die Bezeichnung klingt zu sehr nach ausgelaugter Sozialdemokratie, als dass sie zum Attraktionspunkt innovativer Debatten werden könnte. Bob Jessop schlägt deshalb den Begriff ›demokratischer Ökosozialismus‹ als Alternative vor. 12Doch dessen Verwendung beinhaltet ein ähnliches Problem, wie es dem demokratischen Sozialismus innewohnt. In Deutschland erinnert Ökosozialismus an politische Positionen, die von den siegreichen Mehrheitsströmungen in der grünen Partei als Fundamentalismus bekämpft und erfolgreich marginalisiert wurden.
Schon zu Zeiten der Auseinandersetzung zwischen grünen »Fundis« und »Realos« war die ökosozialistische Strömung allerdings plural, und ihr Scheitern bedeutet nicht zwangsläufig, dass tragende Ideen überholt wären. Deshalb werde ich die Beifügung ›ökologisch‹ gelegentlich verwenden, um zu präzisieren, was mit einem neuen Sozia lismus gemeint sein kann. ›Nachhaltiger Sozialismus‹ ist nach meiner Auffassung aber besser geeignet, um zu konkretisieren, worum es in Zukunft geht. Nachhaltigkeit beinhaltet Antworten auf den ökologischen Gesellschaftskonflikt, sie schließt aber auch soziale Zielsetzungen ein und ist von ihrer Begriffsgeschichte 13her betrachtet sowohl global ausgerichtet als auch universalistisch angelegt. Nachhaltiger Sozialismus existiert, wie etwa auf der Leipziger Studierendenvollversammlung, in der Gegenwart nur in den Vorstellungen und Praktiken von Aktiven in sozialen Bewegungen. Eine demokratische und zugleich nachhaltige sozialistische Gesellschaft ist hingegen nirgendwo verwirklicht.
Vom Sozialismus als Bewegung oder gesellschaftlicher Ordnung muss Sozialismus als Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung unterschieden werden. Für die letztgenannte Bedeutung wird eine Heuristik benötigt, die es erlaubt, einen Gegenstand in ständiger Veränderung mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen und für Forschungszwecke zu operationalisieren.
Exkurs: democratic marxism, Soziologie und Sozialismus
Dabei kann eine Methodik helfen, wie sie im angelsächsischen Sprachraum mit den Ideen eines sociological oder democratic marxism verbunden wird. 14Forschende, die mit diesem paradigmatisch angelegten Konzept arbeiten, verstehen sich als »marxian«, nicht als »marxist«. Zu parteioffiziellen Marxismen verhalten sie sich kritisch. 15Die Beifügung democratic signalisiert eine Sensibilisierung für den Eigenwert pluralistisch-demokratischer Institutionen und Prozesse. Das ist kein Zugeständnis an hegemonial-bürgerliches Denken, wie manche Kritiker:innen meinen. Vielmehr entspricht die Aufgeschlossenheit einer emanzipatorischen Praxis, wie sie etwa während des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampfs selbstverständlich war. Aus den Erfahrungen solcher Freiheitsbewegungen heraus gelten plurale parlamentarische Demokratien als unverzichtbare Basis aller Versuche, Alternativen zum Kapitalismus überhaupt zu diskutieren. 16Zum Selbstverständnis eines democratic marxism gehört eine prinzipielle Offenheit für andere – etwa feministische, ökologische oder indigene –Strömungen kapitalismuskritischen Denkens. Das heißt in der Konsequenz: Es gibt nicht den Marxismus, sondern nur eine gewisse Pluralität an Konzeptionen, die sich in unterschiedlicher Weise auf Marx beziehen. 17Diese Pluralität ist im Fragment gebliebenen Werk selbst angelegt. Anregend sind aus der heutigen Perspektive gerade die Brüche und Ungereimtheiten in den theoretischen Arbeiten des Karl Marx und seiner zahlreichen Interpret:innen. Solche Inkohärenzen zu ignorieren hieße deshalb, einem »faulen Marxismus« 18das Wort zu reden.
Jenseits dogmatischer Erstarrung beinhaltet die Marx’sche Theorie in ihren zahlreichen Weiterentwicklungen und Verästelungen noch immer eine herausfordernde Kapitalismuskritik – »die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art«. 19Sie ist eine Theorie, in deren Namen »große Regionen der Erde umgestaltet« wurden. 20Damit hat sie jedoch zugleich ihre Unschuld verloren. Jede Spielart des Marxismus muss heute selbstreflexiv sein und sich um ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und der durch sie legitimierten Praxis bemühen. Wer sich der Methodik eines soziologischen Marxismus verpflichtet fühlt, steht deshalb für eine niemals abgeschlossene Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum »pragmatischen Realismus« 21so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken oder Bedeutungen zu reanimieren, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt waren. Sozialismus ist ein solcher Begriff, den zu reinterpretieren eine wissenschaftliche und damit auch eine soziologische Aufgabe darstellt.
Eine Methodik, die entsprechend verfährt, muss einigen Anforderungen genügen, die hier kurz genannt seien. Die erste dieser Anforderungen kann als Reinterpretation, Thesenbildung und Prüfung bezeichnet werden. Eine kritische Reinterpretation klassischer Sozialismus-Texte zu betreiben, ist unabdingbar. Dabei gewonnene Thesen müssen aber zumindest ausschnitthaft und exemplarisch einer empirischen Prüfung unterzogen werden, mit deren Hilfe sich theoretische Vorannahmen korrigieren lassen. Daraus folgt für soziologische Erkundungen einer nächsten sozialistischen Gesellschaft, dass sie experimentell und ergebnisoffen angelegt sein müssen. So hat Erik Olin Wright akribisch untersucht, welche Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise sich bereits in bestehenden Gesellschaften herausbilden, ob und unter welchen Umständen sie Bestand haben und auf welche Weise sie tatsächlich zu einem besseren Leben beitragen können. Prozesse des Scheiterns zu dokumentieren, ist in dieser Methodik ebenso angelegt wie eine Wertschätzung von Projekten einer solidarischen Ökonomie oder genossenschaftlicher Selbstorganisation, die sich zuerst in Nischen der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen. 22
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