1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Lukács hat als einer der ersten Marxisten hellsichtig die Ausdifferenzierung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften analysiert. In Anlehnung an Max Weber begreift er die Durchrationalisierung aller gesellschaftlichen Sphären als fortschreitende Verdinglichung. Damit ist gemeint, dass mit der Ausbreitung der kapitalistischen Warenform »dem Menschen seine eigene Tätigkeit, seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird«, und »dies sowohl in objektiver wie in subjektiver Hinsicht«. 25Strukturell zerfällt die Gesellschaft in Teilsysteme, deren Zusammenwirken subjektiv nicht mehr nachvollzogen werden kann:
Das Aufeinanderbezogensein der Teilsysteme ist auch bei normalstem Funktionieren etwas Zufälliges. Die wahre Struktur der Gesellschaft erscheint vielmehr in den unabhängigen, rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten, die miteinander nur formell notwendig zusammenhängen. […] Denn es ist ja klar, daß der ganze Aufbau der kapitalistischen Produktion auf dieser Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses beruht. 26
Antonio Gramsci antwortet mit seiner Hegemonietheorie auf das aus sozialer Differenzierung und Komplexitätssteigerung resultierende Strategieproblem sozialistischer Transformation. Für Gramsci beruht demokratische Herrschaft im integralen Staat auf Hegemonie, auf einem basalen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten 27, der aus den sozialen und symbolisch-kulturellen Konflikten der Zivilgesellschaft erwächst. Jeder Konsens ist mit Zwang gepanzert und in einen historischen Block eingebettet, der Klasseninteressen in die Sphäre der Politik übersetzt, transformiert und sie so weitgehend unsichtbar macht. 28Zwang meint hier nicht in erster Linie offene Gewalt, wenngleich auch diese keineswegs verschwindet. Solange die kapitalistische Eigentumsordnung fraglos vorausgesetzt wird, bedarf der stille ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft keiner besonderen Legitimation. Deshalb können »außerökonomische Güter« wie soziale Bürger- und Freiheitsrechte oder die Gleichstellung von Geschlechtern, Ethnien und Nationalitäten relativ egalitär verteilt werden, denn sie lassen den Kern kapitalistischer Herrschaft unberührt. 29Im integralen Staat eines halbwegs rationalen Kapitalismus wird das Recht zu einer Regulationsform, die auch Interessen beherrschter Klassen berücksichtigen kann. Der Kompromisscharakter des Rechts ermöglicht es, wie Wolfgang Abendroth am Beispiel des (west)deutschen Grundgeset zes gezeigt hat, Demokratie als eine transformative zu denken. Basale Rechtsnormen sind demnach, mit der Institutionalisierung des Rechts variierend, für antikapitalistisch-sozialistische Transformationsstrategien durchaus offen 30, was nichts daran ändert, dass sich die Herrschenden und Mächtigen solchen Veränderungen höchstwahrscheinlich mit aller Macht, das heißt immer auch mit und ohne geeignete Rechtsmittel widersetzen werden.
Das elementare Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit
Mögliche repressive Reaktionen kapitalistischer Eliten einmal beiseitegelassen, ergeben sich aus der im weberianischen Marxismus geleisteten Kritik am elementaren Dreieck sozialistischer Vergesellschaftung Kriterien für eine Heuristik, die Erik Olin Wright zur Neubegründung eines utopischen Sozialismus entworfen hat. Trennt man den Staat von der Zivilgesellschaft und lässt ferner außer Acht, dass Gramsci administrative und repressive Staatsapparate (Kernstaat) einerseits und die Netzwerke reicher Zivilgesellschaften andererseits im integralen Staat zusammenfügt, erhält man in der Verbindung mit ökonomischer Macht ein weiteres Dreieck, das die elementare Heuristik sozialistischer Vergesellschaftung keinesfalls ersetzt, aber doch erheblich modifiziert und erweitert. Das zuvor eingeführte elementare Dreieck des Sozialismus lässt offen, wie die rationale gesellschaftliche Kontrolle über den Produktionsprozess hergestellt und substanzielle Gleichheit in einer modernen, ausdifferenzierten kapitalistischen Gesellschaft erreicht werden soll. Jeder Konkretionsversuch führt zum Problem strategischer sozialistischer Handlungsfähigkeit, das Erik Olin Wright zum Angelpunkt seines Dreiecks macht, für das ökonomische, staatliche und zivilgesellschaftliche Machtressourcen konstitutiv sind (siehe Abb. 2).
Zur Begründung dieser Heuristik schlägt Wright eine Definition vor, die den Sozialismus sowohl dem Kapitalismus als auch dem Etatismus entgegensetzt: »Kapitalismus, Etatismus und Sozialismus können als alternative Wege gedacht werden, die Machtbeziehungen, durch welche ökonomische Ressourcen alloziert, kontrolliert und genutzt werden, zu organisieren.« 31Sozialismus ist für Wright eine ökonomische Struktur,
Abb. 2: Elementares Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit
Quelle: Wright, Erik Olin (2012): Transformation des Kapitalismus, in: Dörre, Klaus/Sauer, Dieter/Wittke, Volker (Hg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik. Frankfurt a. M./New York, S. 462-487, hier: S. 471. Eigene Darstellung.
in der die Produktionsmittel sich im gesellschaftlichen Besitz befinden und Allokationen wie der Gebrauch der Ressourcen für verschiedene gesellschaftliche Zwecke von der Ausübung ›gesellschaftlicher‹ Macht beeinflusst werden können. › Gesellschaftliche Macht‹ ist eine Macht, die in der Fähigkeit gründet, Menschen für kooperative, freiwillige kollektive Aktionen verschiedener Art zu mobilisieren. Dies impliziert, dass die Zivilgesellschaft nicht nur als Arena von Aktivität, Geselligkeit und Kommunikation angesehen werden sollte, sondern auch als reale Macht. 32
So verstanden, wird Sozialismus zu einem graduellen Konzept, dem eine Vielfalt möglicher Konfigurationen zur Ausübung gesellschaftlicher Macht bei der Allokation von Ressourcen, der Kontrolle über die Produktion und der Distribution der erzeugten Güter entspricht. Wright unterscheidet sieben Wege zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit – den etatistischen Sozialismus, die sozialdemokratisch etatistische Regulation, eine assoziative Demokratie, den sozialen Kapitalismus, die kooperative Marktwirtschaft, eine soziale Ökonomie und den partizipatorischen Sozialismus. 33
Ob diese Konfigurationen wirklich in jeder Hinsicht trennscharf sind, kann bezweifelt werden. Bemerkbar macht sich auch, dass Wright aus einer berechtigten Aversion gegen den etatistischen Sozialismus zu einer gewissen Überhöhung der Zivilgesellschaft jenseits des Kernstaates neigt. Für ihn ersetzt die demokratische Zivilgesellschaft im Grunde das revolutionäre Proletariat des klassischen Marxismus. Daran ist zunächst etwas Richtiges, denn es wäre fahrlässig, die sozialen Träger sozialistischer Handlungsfähigkeit auf Arbeiterbewegungen zu beschränken. Aber längst nicht alle in der Zivilgesellschaft präsenten Strömungen sind demokratisch und progressiv. Bewegungen Polanyi’schen Typs, die sich gegen kapitalistische Marktmacht auflehnen, können ausgesprochen reaktionäre, ja faschistische Züge annehmen. 34
Diese Problematik wird nicht nur von Wright, sondern im sociological marxism insgesamt unterschätzt. Allerdings, das stellt Wright klar, sind Kapitalismus, Etatismus und Zivilgesellschaft keine Idealtypen, die einander ausschließen. Vielmehr überlappen sie einander und bilden gemischte Ökonomien, in denen sich positive Externalitäten wie Non-Profit-Organisationen, Genossenschaften oder eine Wissensallmende finden, die auf unterschiedliche Weise zu Ausgangspunkten sozialistischer Transformation werden können. Für Wright folgt daraus, und ich stimme ihm hier ausdrücklich zu, dass keiner der genannten sieben Wege für sich genommen zu einer stabilen ökonomischen Demokratisierung führen kann. 35Exakt dies, die umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen, ist der zentrale Inhalt eines Sozialismusverständnisses, das nach maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung strebt.
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