B. Grundlagen
I. Systematik der Strafvorschriften
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Eine Grobstruktur des Arzneimittelstrafrechts erfolgt durch die Dreiteilung in den §§ 95, 96 und 97 AMG: die als besonders schwerwiegend klassifizierten Verstöße werden im Primärtatbestanddes § 95 AMG[14] (Geldstrafe bis zu drei Jahren, in einem besonders schweren Falle ggf. sogar bis zu zehn, Abs. 3) zusammengefasst. Diesbezüglich sind sowohl die versuchte als auch die fahrlässige Begehung unter Strafe gestellt, §§ 95 Abs. 2, Abs. 4 AMG. Mittelschwere Verfehlungenfinden sich im Katalog des § 96 AMG, der nur die vorsätzliche Begehung erfasst, während die fahrlässige Verwirklichung (§ 97 Abs. 1 AMG) ebenso wie sonstige leichtere Zuwiderhandlungen (insbesondere gegen Verfahrens- und Dokumentationsvorschriften, § 97 Abs. 2 AMG) auf der dritten Stufe nur als Ordnungswidrigkeitgeahndet werden.[15]
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Die Einteilung nach „Schweregraden“bzw. Pflichtverstößen unterschiedlicher Qualität lässt sich am Beispiel der Abgabe von apothekenpflichtigen Arzneimitteln gut demonstrieren: Während die Abgabe apothekenpflichtiger, aber nicht verschreibungspflichtiger Substanzen außerhalb der Apotheke lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt (§ 97 Abs. 2 Nr. 10, Nr. 11 AMG), ist die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneien innerhalb der Apotheke ohne Vorlage eines Rezepts gemäß § 96 Nr. 13 AMG strafbewehrt. Der kumulative Verstoß gegen Apotheken- und Rezeptpflicht wurde in den Katalog der „Primärtatbestände“ aufgenommen, § 95 Abs. 1 Nr. 4 AMG.
II. Tatbestandsstrukturen, insbesondere Blanketttechnik
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Die im Arzneimittelrecht ausschließlich zur Anwendung kommende „ Blanketttechnik“ soll eine Konnexität zwischen Strafnorm und Regelungsmaterie herstellen und durch Legaldefinitionen und Bezugnahmen auf konkretisierte Verbote dem Bestimmtheitsgrundsatz(Art. 103 Abs. 2 GG) Rechnung tragen. Gemeinhin wird zwischen echten Blankettvorschriften (also Tatbeständen, die auf Normen Bezug nehmen, die nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber erlassen wurden, sondern von einer anderen Normsetzungsinstanz stammen, etwa eine Verordnung als Exekutivakt) und unechten Blanketten in Form einfacher Binnenverweisungen differenziert.[16] Außerdem soll die Ausfüllung echter Blanketttatbestände durch Exekutivakte eine unkomplizierte Aktualisierbarkeit der Strafnormen gewährleisten, während mit der Erklärung etwaiger Wendungen mittels Binnenverweisungen ein greifbares und strukturiertes Gesetz bezweckt wird. Dass dieses Ziel zumindest bei mehrstufigen Blankettdelikten – egal ob „echt“ oder „unecht“ – nicht erreicht werden kann, drängt sich auf; aber dies ist nicht der wesentliche Grund, warum beide Arten der Regelungstechnik auf Kriegsfuß mit Art. 103 Abs. 2 bzw. Art. 20 Abs. 3 GG stehen.
1. Binnenverweise und Normspaltung
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Der genannte Vorteil „bestimmter“ – weil akzessorischer – Vorgaben verkehrt sich regelmäßig, da die einheitliche Begriffsbildung nicht immer durchgehalten werden kann, wenn man das Prinzip „ subsidiären Rechtsgüterschutzes“[17] ernst nimmt. Damit läuft die mit der Blanketttechnik angestrebte Vereinheitlichung einer Regelungsmaterie stets Gefahr, sich widersprüchlich fortzuentwickeln, da es vom Einzelfall abhängt, von welchem Ansatzpunkt heraus die Entscheidung gefällt wird: Wenn es die Strafvorschriften sind, die letztlich auch zur Konkretisierung der Verbotstatbestände maßgeblich beigetragen haben sollen, so mag die Sensibilisierung eines Strafrichters im Hinblick auf die Rechtsfolgen (idealtypisch) eher zu einer restriktiven Handhabung führen, als ein Zivilrichter, der einen möglichst umfassenden Verbraucher- oder Wettbewerbsschutz anstrebt.[18] Freilich kann sich dies auch in einem Anwendungsdefizit dergestalt äußern, dass zumindest am Ende der Ermittlungen eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO erfolgt, die nach Gesichtspunkten der Rechtseinheit und Verhältnismäßigkeit kaum tragbar erscheint.
2. Außenverweise und Gewaltenteilung, Art. 20 Abs. 3 GG
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Die eigentliche Diskussion beginnt im Bereich echter Blankettnormen, bei denen die Sanktionsnorm letztlich nicht durch den formellen Gesetzgeber, sondern durch den Verordnungsgeber konkretisiert wird. Derartige Vorschriften enthalten sog. Rückverweisungsklauseln, d.h. die entsprechende Rechtsverordnung für einen konkreten Tatbestand ordnet an, dass die Verordnung ausdrücklich auf die Straf- bzw. Bußgeldvorschrift, also auf das „Blankett“; zurückverweist. Auf den ersten Blick scheint man mit solch einem Konzept das „ Ob“ der Strafbarkeit der Kompetenz des Bundesgesetzgebers entzogen zu haben (weswegen es sich ebenso um eine Frage des Art. 20 Abs. 3 GG handelt).[19] Grundsätzlich wird diese Möglichkeit allerdings von der h.M. akzeptiert, weil der Gesetzgeber selbst die Verordnungsermächtigung erteilt. Bedenklich wird solch eine „Delegation“ aber, wenn nicht lediglich einzelne Tatbestandsmerkmale der „ Konkretisierung“ durch den Verordnungsgeber unterworfen werden, sondern der gesamte Verbotstatbestand durch diesen generiert werden kann. Dies galt insbesondere für § 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 6 AMG a.F.;[20] dabei sind Wendungen wie das Zuwiderhandeln als Bezugstathandlung Indiz für Straftatbestände ohne eigenen Normbefehl, die als „leere Hülsen“ dem Verordnungsgeber die Ausgestaltung in verfassungswidriger Weise voll und ganz überlassen.
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Die Rechtsprechung behilft sich noch – wie zuletzt der Zweite Senat in einer Entscheidung zum Inverkehrbringen von Dopingmitteln – mit dem Argument der „ Heilung durch legislativen Akt“.[21] Die Bestimmungsgewalt des Gesetzgebers bleibe erhalten, wenn die Bezugnahme auf jährlich aktualisierte Anhänge auch durch die Legislative erfolge, da sie die Bezugsvorschriften aktualisiere und damit die zu demjenigen Zeitpunkt geltenden Verbotslisten in seinen Willen aufnehme. Dieser Ansatz spielt jedoch nur eine Rolle, wenn der Verordnungsgeber seine Kompetenz überschritten oder bereits der Gesetzgeber es verpasst hat, in der Verordnungsermächtigung selbst die Grenzen, Umfang und Ausgestaltung des Verbots klar und deutlich abzustecken (Art. 80 GG).[22] Im Kontext des § 6 AMG hat sich die Problematik weitestgehend entschärft, da der Gesetzgeber mit dem Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung vom 9. August 2019[23] die in § 95 Abs. 1 Nr. 2 und in § 96 Nr. 2 AMG enthaltenen Rückverweisungsklauseln gestrichen und durch unmittelbar in § 6 AMG formulierte Verbote ersetzt hat ( Rn. 1).
III. Grundbegriffe des Arzneimittel(straf)rechts
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Soweit das Arzneimittelstrafrecht phänomenologisch ohnehin nur in ganz bestimmten Fällen eine Rolle spielt und innerhalb dieser Fälle dann stets dieselben Auslegungsfragen von zentraler Bedeutung sind, ergibt es Sinn, bestimmte – gleichsam auftretende – Tatbestandsmerkmale vor die Klammer gezogen darzustellen. Dies betrifft insbesondere den Begriff des Arzneimittelsselbst ( Rn. 15 ff.), der bis vor kurzem noch als Auffangtatbestandsmerkmal im Bereich der Rauschgiftkriminalität fungierte (und diese Funktionalisierung – wie die Rechtsprechung zum § 95 AMG belegt – beim Gros der arzneimittelstrafrechtlichen Sachverhalte im Mittelpunkt stand), partiell allerdings auch ubiquitäre Tathandlungen, wie bspw. das Inverkehrbringen. Diese Modalität taucht im § 95 AMG sechsmal, im § 96 AMG gleich neunmal auf.
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Der Begriff des Arzneimittels ist Dreh- und Angelpunkt des gesamten Arzneimittelrechts, weswegen es nicht überrascht, dass der Gesetzgeber seine Definition nicht in die allgemeine Begriffsdefinitionsvorschrift des Arzneimittelrechts (§ 4 AMG) „gepresst“, sondern dieser – auch um eine ausreichende Systematisierung gewährleisten zu können – eine eigene Vorschrift, § 2 AMG, gewidmet hat.
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