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Bis heute haben sich in der Rechtsprechung auch keine Mechanismen entwickelt, mit denen jenen geschilderten Unwägbarkeiten begegnet werden kann. Der 3. Strafsenat hatte in einem aufsehenerregenden Anfragebeschlussvorgeschlagen, das Handeltreiben anhand eines abgeschlossenen Katalogs von Handlungen näher zu bestimmen.[146] Der Große Senatlehnte diesen Vorstoß ab, hielt an der extensiven Auslegung fest und beschwichtigte mit der Überlegung, dass „ein großer Teil derjenigen Fälle, die im vorliegenden Zusammenhang als problematisch diskutiert werden, […] seine Lösung eher an der Grenzlinie zwischen Beihilfe und (Mit-)Täterschaft als in der Differenzierung zwischen versuchtem und vollendetem Handeltreiben“ finde.[147]
c) Einzelfallkasuistik und Kurierrechtsprechung
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Bei solch einer Begründung dürfte es einen Versuch des Handeltreibens eigentlich nicht mehr geben. Dennoch hat die Rechtsprechung auch nach der Entscheidung des Großen Senats Fallgruppen benannt, in denen ein bloß versuchtes Handeltreiben in Betracht komme: zum Teil wird darauf abgestellt, ob der Täter bereits Betäubungsmittel besitzt(wenn nicht, kein unmittelbares Ansetzen), was im Widerspruch dazu steht, dass der Anbauprozess als Teilakt des Handeltreibensanerkannt wird. Auch steht bis heute nicht fest, ob bereits ernsthafte Angebote ausreichen oder es zu Gesprächen gekommen sein muss. Warum ausgerechnet das fehlgeschlagene Bemühen, als Rauschgiftkurier zu agieren, einen Versuch darstellen soll,[148] bleibt fraglich; selbst wenn man den Versuch als solches ausblendet, kommt man nicht um eine Abgrenzung zum Bereich strafloser Vorbereitung umhin. Eine neuere „Errungenschaft“ der Rechtsprechung, als frühesten Bereich des unmittelbaren Ansetzens den Anbau der Betäubungsmittel anzusehen (so dass das bloße Anmieten eines Hauses zum Zwecke des geplanten Anbaus von Cannabis eine straflose Vorbereitungshandlung darstellt[149]) ist zwar in ihrer restriktiven Wirkung zu begrüßen. Die „Sperrwirkung“[150] des Anbautatbestandsmutet aber zufällig an, wenn man bedenkt, dass in anderen Fällen mit weitaus weniger „Realisierungspotential“ ein vollendetes Handeltreiben bejaht wird. Jedenfalls zeigen sich – was zu begrüßen ist – vor allem in der neueren Rechtsprechung mittelfristige Auswirkungen der Entscheidung des Großen Strafsenats in Form einer grundsätzlich gesteigerten Tendenz, straflose Vorbereitungshandlungen in größerem Umfang als zuvor anzunehmen. Immer häufiger ist zu lesen, dass Handlungen „ weit im Vorfeld des beabsichtigten, noch nicht näher konkretisierten Drogenumsatzes“ weder vollendetes noch versuchtes Handeltreiben darstellten. Als relevante Fallgruppen sind zu nennen: Bloße Anfragen, denen es ggf. auch an der Ernstlichkeit mangelt, Kuriervorbereitungen, Transport und Ankauf von Utensilien, die dem späteren Handeltreiben dienen sollen usw.[151] Auch der Antritt einer Fahrt in der Absicht, am Zielort Betäubungsmittel zu erwerben, soll nach einer neueren Entscheidung des Fünften Strafsenats noch kein (versuchtes) Handeltreiben darstellen, es sei denn, dem Täter ist am Zielort ein zuverlässiger Händler bekannt.[152]
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Diese restriktiven Tendenzen ändern freilich nichts an der wachsweichen Anwendung der „AT-Dogmatik“, die sich auch im Bereich der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme beobachten lässt. Da eine Einheitstäterschaft als Ergebnis der Eigenhändigkeitsformel in Anbetracht der im Raum stehenden Sanktionen für die zahlreichen „kleinen Fische“ weder praktizierbar noch gewünscht ist, hat sich sehr früh (also bereits vor der berüchtigten „Kurierrechtsprechung“, vgl. im Folgenden) eine Einzelfallrechtsprechung etabliert, die sich nicht an der tatbestandlichen Ausführungshandlung und somit nicht an Tatherrschaftskriterien orientiert, sondern die Tathandlung in den Kontext des Gesamtumsatzgeschäftsstellt. Diese Tendenz wurde durch die bereits zitierte Entscheidung des Großen Senats begünstigt, indem der Rückgriff auf die Beihilfe (oder genauer: auf die obligatorische Strafmilderung nach § 27 Abs. 2 StGB) zur Methode erhoben wurde. Sie mündete kurze Zeit später in die einprägsam als „ Kurierrechtsprechung“ bezeichnete Entscheidung des 2. Strafsenats,[153] wonach Personen, denen in der Abwicklung des „Gesamtgeschäfts“ eine eher untergeordnete Rollezukommt (dies treffe auf Kuriere regelmäßig zu), als Gehilfen einzuordnen seien. Ähnlich wie bei der „Hemmschwellentheorie“ (beim Tötungsvorsatz) musste die höchstrichterliche Rechtsprechung kurz danach mehrmals klarstellen, dass der Rückgriff auf das „Schlagwort“ nicht genügt, sondern in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob nicht vielleicht doch eine Mittäterschaft vorliegt, mag der Beteiligte auch nur „Kuriertätigkeiten“ vorgenommen haben.[154] Schon diese Rechtsprechung lässt vermuten, dass das Schlagwort keinesfalls eine auf Anhieb bessere Zuordnung ermöglicht, sondern bei genauerem Hinsehen als plakativ-kasuistische Hülle fungiert, die im Einzelfall das „Schlupfloch“ der unvorhersehbaren Gesamtbewertung nicht beseitigt,[155] sondern allenfalls die Anforderungen an die tatrichterlichen Darstellungsanforderungen modifiziert.
d) Kritik und Alternativen
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Die dargestellten Unwägbarkeiten müssten bereits ihrer selbst willen aufgelöst werden – und zwar möglichst legislativ; denn die Rechtsprechung weigert sich bis heute, dies zu tun und beruft sich dabei auf den Willen des Gesetzgebers. Zwar bestimmt die „Dogmatik“ (insbesondere die Anwendung des Allgemeinen Teils wie auch die allgemeine Verbrechenslehre) nicht den Inhalt der Verhaltensnormen, sondern führt diese zunächst nur einer Systematisierung zu. Umgekehrt gewährt sie jedoch auch Garantien (etwa fakultative sowie obligatorische Strafmilderungen), welche in die Sanktionsnorm implementiert werden müssen, wenn der Gesetzgeber davon abgesehen hat, Modifikationen des Allgemeinen Teils als lex specialis innerhalb der dogmatisch unzulänglichen Vorschriften zu konzipieren (wie er dies bei zahlreichen anderen Vorfelddelikten im Besonderen Teil für angemessen erachtete). Ist nämlich eine Anwendung des Allgemeinen Teils, insbesondere eine Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme oder von Vorbereitung, Versuch und Vollendung gänzlich unvorhersehbar, fehlt es letztlich an einer verfassungsmäßigen Sanktionsnorm. Dies gilt zumindest dann, wenn trotz einer faktischen Unanwendbarkeit derjenigen Vorschriften, welche eine angemessene Berücksichtigung unrechtsmindernder Faktoren gewähren, die Sanktionsnorm mit Mindeststrafen von nicht unter zwei oder fünf Jahren aufwartet.
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Der Verfasser hat sich an anderer Stelle für eine Konkretisierung des Begriffs des Handeltreibens als „Notlösung“ dergestalt ausgesprochen, dass an eine konkrete Tätigkeit – nämlich an die Erklärung, Betäubungsmittel umsetzen zu wollen – geknüpft wird.[156] Dies gilt, soweit man bereits den bloßen Ankauf bzw. Verkauf ohne Verfügungsmacht über Drogen weiterhin kriminalisiert wissen möchte und das kennzeichnende Unrecht der Tatmodalität nicht lediglich in der umsatzbezogenen „Abwicklung“, sondern bereits in der eindeutigen Manifestation des Umsatzwillens sieht. Gesetzgebungstechnisch einfacher umsetzbar und auch das rechtspolitisch bessere Signal vermittelte jedoch die Tathandlung des „Umsetzens“: Wie Roxin bereits anregte,[157] könnte so deutlich an einen Außenwelterfolg des Umsatzesgeknüpft und ein Fixpunkt für die Verhaltensnorm geschaffen werden, welcher diese konkretisiert (zugleich selbstverständlich auch einschränkt). In beiden Fällen wären die Probleme der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme beseitigt und durch die Anknüpfung an ein singuläres Ereignis die Bestimmung des Versuchsbereichs (zumindest unter Rückgriff auf die Teilaktstheorie) wieder möglich.
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