Bäume sind des Menschen große Brüder, seine Freunde, Begleiter und Vertraute. Ebenso, wie sie im Boden wurzeln, stehen wir mit beiden Füßen auf der Erde. Und wie sie ihre Äste in die Luft hinausstrecken und dem Himmel entgegenwachsen, stehen wir aufrecht und recken unseren Kopf in die Höhe. Sie wandeln unser ausgeatmetes Kohlenstoffdioxid in Sauerstoff um und ermöglichen uns damit unser Leben. Wir sind stofflich und energetisch mit ihnen verbunden. Die Menschen in unserem Kulturkreis lebten vormals über Jahrtausende hinweg in tiefer Verbundenheit mit den Bäumen und Sträuchern ihrer Umgebung. Diese als nah verwandt empfundenen Vertreter des Pflanzenreichs prägten das Alltagsleben bis tief in die Heilanwendungen hinein. Sorgen und Krankheiten wurden ihnen anvertraut. Man war sich sicher, dass die Bäume genauso wie die gesamte Natur Anteil am menschlichen Leben nahm. Es war ein Leben geprägt vom Gefühl des Miteinanders und weit weniger des Nebeneinanders.
Gerade Kinder fühlen sich mit Bäumen und Sträuchern oft sehr verbunden und spüren intuitiv ihre nahe Verwandtschaft mit dem jungen Pflanzengewebe von Knospen, Wurzel- und Triebspitzen.
Nach evolutionsgeschichtlichen Maßstäben wird offensichtlich, wie nah der Mensch mit den Bäumen verbunden ist. Fast die gesamte Zeit seiner zwei Millionen Jahre verbrachte er in tiefer Verbindung mit der Natur. Erst seit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verstädterung waren nicht mehr natürliche Lebensräume, sondern urbane Ballungsgebiete das Zentrum des Lebens. Diese Entwicklung hält weltweit an. Typisch für den städtischen Alltag sind vermehrte unnatürliche Sinnesreize, ja, es findet eine regelrechte Reizüberflutung statt. Kinder wie auch Erwachsene werden durch diese Entwicklung von ursprünglichen Naturerlebnissen isoliert.
Natürliches Grün hingegen führt uns zu Innenschau, Selbstreflexion und Intuition, die für das menschliche Leben und besonders für die Entwicklung der Kinder immens wichtig sind. Naturnahe Umgebungen wie ein Wald bieten uns ebenfalls eine große Menge an sinnlichen Eindrücken und Empfindungen wie Farben, Lichteffekten, Geräuschen, Gerüchen, Temperaturempfindungen und so fort. Im Gegensatz zur Reizüberflutung in den urbanen Gebieten wird uns hier aber ein Gefühl von stiller Faszination mit gleichzeitiger innerer Ruhe und Kraft geschenkt. Der Moment wird bewusst wahrgenommen, oft begleitet von einem wohligen psychischen Erleben und einem seelischen Erwachen. Dies ist eins der Geschenke der Bäume an uns. Was wir erleben und empfinden, wenn wir in die Aura eines Baums oder in einen Wald treten, ist eine Vielzahl von bewussten und unbewussten Einflüssen, die wir als Individuen in unserem Inneren zu einer Erfahrung zusammensetzen. Sobald ich als Mensch zu einem Baum gehe oder in einen Wald eintrete, werde ich Teil dieses »Lebewesens«, dieses Ökosystems. Oft geht einem dabei das Herz auf, was in der modernen Psychologie mit dem Prozess des »evolutionären Rückerinnerns« erklärt wird. Als ehemaliger Waldmensch betrete ich somit erneut mein damaliges Zuhause.
Mütterliche und väterliche Bäume
Zu allen Zeiten verehrten Menschen die mütterlichen und väterlichen Kräfte der Natur. Diese Kräfte manifestieren sich auch in unserem ursprünglichen Zuhause, dem Wald. Da gibt es Bäume mit mehr mütterlichen oder väterlichen Eigenschaften (manchmal auch beides in einem Baum vereint). Wer mit wachen Augen durch die Welt geht, erkennt in der Natur die mütterliche oder väterliche Ausstrahlung von Bäumen und Sträuchern. So ist zum Beispiel die Linde ein typisch mütterlicher Baum, die Eiche hingegen ein typisch väterlicher. Die Knospenheilmittel können darum auch nach solchen Gesichtspunkten ausgewählt werden. Fehlt es einem Kind beispielsweise an väterlicher Präsenz, kann die Eiche, eingesetzt als Gemmomittel, Gutes tun.
Mütterliche |
Echter Feigenbaum |
Bäume |
Feldulme |
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Hängebirke |
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Schwarzer Holunder |
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Mandelbaum |
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Wolliger Schneeball |
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Silberlinde |
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Silberweide |
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Sommerlinde |
Väterliche |
Bergkiefer |
Bäume |
Brombeere |
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Edelkastanie |
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Hainbuche |
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Libanonzeder |
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Olivenbaum |
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Riesenmammutbaum |
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Stieleiche |
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Walnussbaum |
Bäume als Entwicklungshelfer für die Menschen
Bäume begleiten den Menschen also seit jeher als Vertraute, als Brüder und Schwestern, als Mütter und Väter. Wer in diese Wahrnehmung eintaucht, wird oft ein wohlwollendes Entgegenkommen fühlen können, als ob sie einem zulächeln würden.
Überall dort, wo ein Zustand der Schwäche oder der Störung die natürliche Ordnung infrage stellt, stabilisiert und stärkt die Freundschaft mit den Bäumen und Sträuchern kraftvoll und schützend den rechten Lauf der natürlichen Ordnung – wie eine Botschaft der Hoffnung. Bäume als begleitende Entwicklungshelfer steigern die Verfügbarkeit von Ressourcen und Selbstheilungskräften und führen über neue Assoziationen zu anderen Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten.
So hilfreich und kraftvoll Bäume und Sträucher – überhaupt alles Grün um uns herum – unseren Lebensraum schützen, so offen bleibt, wie diese Kraft entsteht. Ist es die lebens- und gesundheitsbestimmende dynamische Grundidee der Natur, die die Bäume in uns wecken können? Sicher ist, dass Bäume das höhere Selbst, die Spiegelungen körperinnerer Organ- oder Zellkräfte und unsere Ressourcen und Selbstheilungskräfte direkt ansprechen.
Rituale – Sichtbarmachung verborgener Vorgänge
Der Weltenlauf, in den jeder Mensch und jedes Kind als winzig kleines Teilstückchen eingebunden ist, wird wohl ein immerwährendes großes Geheimnis bleiben. Und dennoch sind die natürlichen Gesetzmäßigkeiten im Alltag spürbar. Wir nehmen Tag und Nacht, die Jahreszeiten, individuelle Befindlichkeiten, Gesundheit und Krankheit als persönliche Erfahrungen ebenso wahr wie die kosmischen Abläufe. Auf diese Art und Weise gestalten wir das Leben und erfahren Veränderungen. Die Erscheinungen der Natur laden uns ein, mitzuschwingen, mitzutanzen, mit wachem Geist und hellen Sinnen ihre aktivierenden und regenerierenden Qualitäten zu erleben. Leben ist Rhythmus. Ohne Rhythmus ist das Leben nicht möglich. Wir sind eingebunden in das Ein- und Ausatmen des Kosmos, in den Rhythmus des Universums.
Kinder sind wesentlich stärker in diese Zyklen integriert als Erwachsene. Sie bekunden beispielsweise keine Probleme im Wechsel der Jahreszeiten. Sie kennen keine Frühjahrsmüdigkeit, keine Angst vor der Kälte des Winters, sie leben in den natürlichen Veränderungen, wie sie sich ereignen, freuen sich darauf, die von der Natur dargebrachten Geschenke entgegenzunehmen und damit zu spielen. Sie schwingen auf ursprüngliche Weise mit den inneren und äußeren Lebensrhythmen mit, was eine der besten Voraussetzungen für eine störungsfreie Entwicklung des Kindes ist.
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