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Andererseits liegt in einem solchen „Vorpreschen“ einzelner Mitgliedstaaten auch eine Chance. Auch hier kann die trotz aller Kritik letztlich erfolgreiche deutsche Energiewende durch das EEG als Beispiel gelten, denn sie ist inzwischen weltweit ein Vorbild. Nationale Gestaltungsspielräume können daher[259] wertvolle Experimentiermöglichkeitensein, denen andere Mitgliedstaaten vielleicht irgendwann einmal folgen und langfristig sogar die Möglichkeit besteht, dass sich die ursprünglich unilaterale nationale Maßnahme EU weit durchsetzt. Außerdem ist jede zusätzliche Anstrengungklimapolitisch nicht nur erwünscht, sondern im Pariser Abkommen ausdrücklich aufgefordert. Man muss allerdings aufpassen, dass solche nationalen Maßnahmen nicht zu protektionistischen Zwecken missbrauchtwerden, etwa um durch Setzung bestimmter Technikstandards ungeliebte Konkurrenz aus dem Ausland fernzuhalten.
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In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Regeln zu den nationalen Alleingängen im Klimaschutzrecht. Was hier im Einzelnen möglich ist, hängt ganz entscheidend davon ab, ob der Bereich noch nicht harmonisiert ist und auch sonst keine Sekundärrechtsakte bestehen[260], also noch kein klimapolitischer Sekundärrechtsakt existiert oder ob es bereits eine Harmonisierung oder einen sonstigen Sekundärrechtsakt gibt.[261]
III. Nationaler Klimaschutz bei Fehlen von Sekundärrechtsakten
1. Verbot mengenmäßiger Beschränkungen
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Nationale Klimaschutzmaßnahmen bei Fehlen von Sekundärrechtsakten müssen nur mit dem EU Primärrecht vereinbar sein. Hier kommt insbesondere der freie Warenverkehrin Frage. Nach Art. 34 AEUVsind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Der Begriff der mengenmäßigen Beschränkungenerstreckt sich auf sämtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die sich als eine gänzliche oder teilweise Untersagung der Einfuhr, Ausfuhr oder Durchfuhr darstellen[262], diese also in irgendeiner Weise durch Anknüpfen an Menge, Wert oder Zeitraum mengenmäßig kontingentieren. Solche Maßnahmen dürften indes in der Umweltpolitik und auch beim Klimaschutz kaum eine Rollespielen.
2. Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung
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Von hoher praktischer Bedeutung ist hingegen ist der Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkungbei der Interpretation des Art. 34 AEUV. Seit der grundlegenden Dassonville -Entscheidung versteht der EuGH hierunter „ jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“[263].
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Klimapolitisch relevant sind hier die Fälle, in denen zwar nicht formell zwischen inländischer und ausländischer Ware diskriminiert wird, aber de facto importierte Waren stärker betroffen sindals inländische Waren und Regeln, die weder de iure noch de facto diskriminierend sind, jedoch Importe erschweren und damit die Warenverkehrsfreiheit als solche einschränken.[264]
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Ein Beispiel für Ersteres wäre die Einführung technischer Produktionsstandards zur CO2-Reduzierung, welche genau mit der deutschen Industrie abgestimmtwurde und daher die deutsche Industrie deutlich besser einhalten kann als die Industrie aus anderen EU Staaten.
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Ein Beispiel für die Erschwerung von Importen könnte die verpflichtende Angabe eines CO2-Fußabdrucksbei der Vermarktung in Deutschland sein.
3. Ausnahmen von der Warenverkehrsfreiheit
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Solche Beschränkungen des freien Warenverkehrs, insbesondere durch Maßnahmen gleicher Wirkung sind aber nicht per se verboten. Sie können aus den in Art. 36 AEUVgenannten Gründen ausnahmsweise gerechtfertigtsein. Umweltschutz wird dort aber nicht explizit als Ausnahmegrund genannt, jedoch Ausnahmegründe, die mittelbar umweltschutzrelevant sein können. Hierzu zählen der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen. So ist es vorstellbar, dass ein Fahrverbot wegen Feinstaubs, welches unmittelbar dem Gesundheitsschutz betrifft, mittelbar auch dem Klimaschutzdient, über Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden könnte, sofern es Auswirkungen auf den freien Warenverkehr hat.
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Allerdings dürfte es aufgrund der enumerativen Aufzählung der Schutzgüter in Art. 36 AEUV und der Tatsache, dass Art. 36 AEUV als Ausnahmebestimmung zur Warenverkehrsfreiheit eng auszulegen ist, nur schwer möglich sein, Umweltschutz allgemein und damit auch Klimaschutz als zulässige Rechtfertigung zur Einschränkung des freien Warenverkehrs anzusehen. Man wird daher nach anderen Wegen zur Rechtfertigung von unilateralen nationalen Klimaschutzmaßnahmen suchen müssen.
4. Klimaschutz als „zwingendes Erfordernis“
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Hier bietet sich die EuGH -Rechtsprechung zu den sogenannten zwingenden Erfordernissen an. Die Dassonville -Rechtsprechung des EuGH führte zu einer erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 34 AEUV, was angesichts der begrenzten und abschließenden Liste der in Art. 36 AEUV genannten Ausnahmegründe nach einem einschränkenden Korrektiv des extrem weiten Anwendungsbereichs der Warenverkehrsfreiheit verlangte.
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Dieses Korrektiv schuf der EuGH in dem bekannten Cassis de Dijon-Urteil [265]. Hiernach sind bei Fehlen einer Regelung der Union Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung eines Erzeugnisses ergeben, hinzunehmen, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.[266] Mit dieser Entscheidung schränkt der EuGH den Anwendungsbereich von Art. 34 AEUV insoweit ein, als nicht-diskriminierende staatliche Maßnahmen mit handelsbeschränkender Wirkung aufgrund zwingender Erfordernisse notwendig scheinen. Dogmatisch handelt es sich bei den „zwingenden Erfordernissen” im Sinne der Cassis de Dijon -Rechtsprechung um immanente Schranken von Art. 34 AEUV.
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Für den hier interessierenden Klimaschutz ist von Bedeutung, dass der EuGH seit seinem Dänischen Pfandflaschen-Urteil in ständiger Rechtsprechung anerkennt, dass auch nationale Umweltschutzmaßnahmen ein „zwingendes Erfordernis”sind und somit Einschränkungen des Anwendungsbereichs von Art. 34 AEUV rechtfertigen können[267]. Damit können jedenfalls vom Ansatz her auch nationale Klimaschutzmaßnahmenwie z.B. die verpflichtende Ausweisung eines CO 2-footprints eine zulässige Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit sein.
5. Sachliche Grenzen unilateraler Klimaschutzmaßnahmen
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Generell gilt, dass solche unilateralen Klimaschutzmaßnahmen nicht willkürlich diskriminierenund keine verschleierte Handelsbeschränkungsein dürfen. Außerdem müssen sie verhältnismäßig sein.[268] Dies soll ausschließen, dass mit der nationalen Klimaschutzmaßnahme primär andere als die im EUV und AEUV und durch die Rechtsprechung anerkannte nicht-wirtschaftliche Gründe verfolgt werden und es in Wahrheit nur um den Schutz der nationalen Industrie geht. Ob dies der Fall ist, lässt sich im Rahmen einer sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfungfeststellen.
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