Normalerweise ist Maryo Vadorís auf hoher See unterwegs, um Kontakte zu knüpfen, Handel zu treiben und seine Legende um weitere Abenteuer zu ergänzen. Alle paar Monate besucht er Merita und damit sein Patenkind, das sich nun von meinem Hals löst und mich mit strahlenden Augen ansieht.
»Onkel Maryo hat mir gezeigt, wie man einen Seemannsknoten macht. Willst du es sehen?« Ihr Lächeln ist so glücklich, dass mein Herz sich weitet.
»Später«, sage ich ebenfalls lächelnd. »Ich muss erst noch etwas mit deiner Mama besprechen.«
»In Ordnung!«, ruft Layla und ihr Blick gleitet kurz zum Assassinen an meiner Seite.
Vor ihm hat sie immer etwas Respekt, was wohl daran liegt, dass Schatten selten bis nie ein freundliches Gesicht aufsetzt. Auch jetzt erwidert er Laylas Musterung mit undurchsichtiger Miene – trotzdem weiß ich, dass er sein Leben geben würde, um sie zu beschützen. Ebenso wie jeder andere hier im Raum.
»Layla, komm her«, ruft die Herrscherin und ihre Tochter rennt zu ihr. Ihre Mutter fährt ihr mit einer liebevollen Geste über das Haar, dessen dunkelbraune Farbe sie mit ihr gemeinsam hat, und ihre Gesichtszüge werden so weich, dass sie förmlich von einem inneren Licht zu erstrahlen scheint. »Hör zu, Liebes, wir müssen mit Lucja und Schatten noch etwas besprechen, ja?« Sie wendet sich dem Elfenkapitän zu, der mit verschränkten Armen neben ihr steht. »Maryo, könntest du sie bitte auf ihr Zimmer begleiten? Ihre Lehrerin hat sie bereits gesucht, der Unterricht beginnt bald. Es ist der letzte für heute, dann soll sie sich fürs Abendessen bereit machen.«
Die Augen des dunkelhaarigen Elfen funkeln. »Selbstverständlich.« Er streckt die Hand nach dem Mädchen aus und es ergreift seine Finger umgehend, während es seinen Patenonkel anhimmelt. »Komm, wir lassen die Erwachsenen ihre Erwachsenengespräche führen«, sagt Maryo schmunzelnd. »Was lernst du denn gerade im Unterricht?«
Fröhlich plappernd erzählt Layla ihm von ihren Biologiestunden, indes er sie aus dem Thronsaal führt.
Ich schaue ihnen lächelnd hinterher. Die beiden sind ein wirklich amüsantes Gespann und ich werde später nach Layla sehen, damit sie mir ihren Seemannsknoten vorführen kann.
Meine Aufmerksamkeit wird auf zwei Männer gerichtet, die in ebenjenem Moment durch die Flügeltüren in den Thronsaal treten, als Maryo und Layla ihn verlassen.
Der Elfenkapitän nickt ihnen im Vorbeigehen zu, was diese respektvoll erwidern. Ich registriere, wie der schlankere der beiden Männer Layla zuzwinkert, woraufhin sie ein Kichern ausstößt. Kurz darauf sind sie und ihr Patenonkel weg.
»Seid willkommen, Léthaniel und Steinwind«, höre ich die Herrscherin die Neuankömmlinge begrüßen, die nun näher treten.
Distanziert schließe ich mich ihr an. Ich mag diesen Léthaniel nicht – er glaubt, nur weil er ein hübsches Gesicht hat, würden ihm alle Frauen zu Füßen liegen. Seine arrogante Art und das selbstverliebte Auftreten tun ihr Übriges, sodass ich seine Nähe normalerweise meide. Ihm auf den Fersen folgt sein Greif Meteor – ein zugegebenermaßen beeindruckendes Geschöpf, das die Größe eines kleinen Ponys besitzt und mit seinem schwarzen Löwenfell und den intelligenten Adleraugen meinen Argwohn schürt. Gepaart mit dem Hünen Steinwind, der Léthaniel wie ein Schatten überallhin folgt und dessen Verstand seinen Muskeln weit hinterherhinkt, ist das Trio definitiv nicht das, was ich gern um mich habe.
Da ist mir der schweigsame Assassine um Längen lieber, der sich gerade ebenfalls stirnrunzelnd nach den Neuankömmlingen umdreht.
»Gut, dann haben wir ja nun alle beisammen«, ertönt die Stimme des blonden Elfen und lenkt damit meine Aufmerksamkeit wieder zum Thron.
»Wie meint Ihr das?«, fragt Léthaniel, der zu Schatten und mir aufgeschlossen hat. Er verneigt sich anmutig vor der Herrscherin.
»Wir haben eine Mission für Euch«, präzisiert diese nun mit einem leichten Lächeln. »Eine, die sowohl Muskelkraft als auch Verstand, Geschick und Diplomatie benötigt.«
Léthaniel streckt seine Schultern durch und legt den Kopf schief, ehe er einen Seitenblick zu Schatten und mir wirft. »Das erklärt, warum ich hier bin, aber nicht, wieso die beiden da auch hinzugerufen wurden.«
Der Dunkelelf neben mir stößt ein warnendes Knurren aus, das Léthaniel bloß mit einem frechen Grinsen pariert.
»Ihr werdet nach Fayl reisen«, fährt die Herrscherin fort, ohne auf Léthaniels sarkastischen Spruch einzugehen.
»Nach Fayl?« Meine Augen weiten sich. Seit Jahren war ich nicht mehr so nahe an meiner Heimat Arganta.
Die Herrscherin nickt. »Ich möchte den Zirkelleiter ein für alle Mal von unserer Sache überzeugen. Und dabei zähle ich auf Euer Verhandlungsgeschick, Lucja. Ihr kennt Venero und könnt ihn womöglich dazu bewegen, dem Friedensbündnis beizutreten.«
Ich hole fahrig Luft. »Natürlich. Ich …«
»Mir ist bewusst, dass Ihr womöglich danach Eure Heimat besuchen möchtet«, sagt die dunkelhaarige Frau mit einem warmen Lächeln. »Hiermit entbinde ich Euch von Euren Aufgaben, die Ihr in Merita hattet. Geht nach Hause – oder kehrt hierher zurück. Ich überlasse diese Entscheidung Euch, obschon ich Euren Rat vermissen werde.«
Mein Herz zieht sich zusammen und ich weiß gar nicht, warum genau. Ein Teil von mir kann es kaum erwarten, meinen Vater wiederzusehen, der immer noch im Zirkel von Arganta nach dem Rechten sieht, auch wenn er inzwischen kein Zirkelleiter, sondern nur noch einer der fünf Zirkelräte ist. Der andere Teil … wird Merita vermissen. Nein, nicht nur Merita …
Mein Blick gleitet zum Assassinen, der mit gleichmütiger Miene neben mir steht und mich nicht ansieht. Dennoch vermeine ich, seine Kiefermuskeln zucken zu sehen.
Ob er mich ebenfalls vermissen würde? Ich kann es weder in seinem Gesicht noch in seiner Haltung lesen.
»Ihr habt Zeit, Euch Eure Entscheidung zu überlegen«, sagt die Herrscherin und lenkt damit meine Aufmerksamkeit erneut auf sich. »Und Ihr, Léthaniel« – sie wendet sich dem Greifenreiter zu – »Ihr werdet danach nach Chakas reisen und meinen Cousin Cilian von den Ergebnissen Eurer Mission berichten. Auch Euch sei gestattet, danach in Eurer Heimat zu bleiben oder hierher zurückzukehren. Mir ist bekannt, dass Cilian stets Verwendung für hervorragende Greifenreiter wie Euch hat und sich freuen wird, Euch wieder in seinem Orden willkommen zu heißen, solltet Ihr das denn wollen.«
Léthaniels Körper durchfährt ein Zittern, das ich bloß erkenne, weil er dicht neben mir steht. Ich weiß, dass er ursprünglich aus Chakas stammt, und habe Gerüchte gehört, dass er durch seinen Aufenthalt hier in Merita vor einer Liebe floh, die er in seiner Heimat zurücklassen musste. Nun ja, ein Mann wie er wird wohl an allen Orten, an denen er war, ein gebrochenes Herz hinterlassen, daher habe ich bisher nie viel auf dieses Gerede gegeben.
Jetzt aber, da er von der Herrscherin direkt auf Chakas angesprochen wird, scheint mir, dass da doch etwas dran ist. Womöglich werde ich auf unserer Reise mehr darüber erfahren – oder auch nicht. Ist mir im Grunde gleichgültig. Ich habe genug eigene Probleme, unter anderem muss ich die Entscheidung treffen, wohin mich meine Zukunft bringen soll. Zurück nach Arganta oder wieder nach Merita. Die Wahl wird mir definitiv nicht leichtfallen.
Einige Wochen später
Ich klopfe den Schnee von halb vertrockneten Büschen zwischen den Felsen, bevor ich ihre knorrigen Äste abschneide, damit wir später ein Feuer entfachen können. Die Reise ist bisher ruhig verlaufen. Wenngleich ich mich am Anfang mit Léthaniel und Steinwind schwertat, so habe ich mich mit ihnen arrangiert. Léthaniel flog zudem meist mit seinem Greif voraus, sodass ich nur während der Pausen und am Abend seine dummen Sprüche ertragen musste. Ansonsten ritten Steinwind, Schatten und ich größtenteils schweigsam nebeneinander durch das verschneite Hochgebirge und hingen unseren Gedanken nach.
Читать дальше